Marietta Franke
Kunstzeitschrift „work in progress“, Köln 1994
zur Ausstellung. Stephan Reusse „Lemonroom“, Kunstverein Speyer, 1994
Die Distanzierung des Gehirns von sich selbst
Stephan Reusse hat den Wintergarten des Kunstvereins in Speyer zumindest für die Dauer seiner Ausstellung vom 14.8.-6.9.94 1 eine eigene Qualität verliehen, indem er die mit Rolläden verschlossenen und mit Stellwänden verbauten großflächigen Fenster geöffnet und die Farbe von den Kachelfußboden entfernt hat, so daß den Ausstellungsbesucher ein vom wechselnden Tageslicht erleuchteter Raum mit Blick auf den parkähnlichen Garten erwartete,, während die anderen Ausstellungsräume künstlich beleuchtet sind.
Bereits beim Betreten des Ausstellungsgebäudes wird er durch die Flucht des Flures und eine Türöffnung in den hinteren Raum sehend, einer Vitrine gewahr, die punktuell von oben mit einem Halogenlicht bestrahlt wird. Auf dem Weg dorthin, d. h. durch den Flur und die anderen Ausstellungsräume hat Reusse eine Auswahl seiner in Form von schwarz/weiß-Emaillen ohne Namen präsentierten Künstlerporträts (Robert Barry, Joseph Beuys, Leon Golub, Ilya Kabakov, Robert Longo, Hermann Nitsch und Lawrence Weiner) auf ca. 0,15 m breiten und 1,90 m hohen hellgrauen Streifen in Augenhöhe eines durchschnittlich großen Menschen (ca. 1,70m) angebracht. Die Emaillen sind Nebenarbeiten zu den innerhalb der letzten 12 Jahre entstandenen ca. 80 Künstler- und Künstlerinnen- Porträts, die es als Cibachrome-Arbeiten, Fotokeramiken2 oder in Verbindung mit anderen Fototrägern (Leinen, Linoleum, Folien) gibt. Zur Herstellung der Porträt-Emaillen ist Reusse von den Gedenkbildern angeregt worden, die als Grabstein-Einlagen vor allem auf italienischen Friedhöfen zu finden sind. Reusse befindet sich mit diesen Arbeiten inmitten einer Form des Denkens über Fotografie wieder, die eine direkte Beziehung zwischen Form und Inhalt herstellt, indem sie die Verknüpfung zwischen Fotografie und Tod beschreibt. Susan Sontag hat in ihrem Essay „Objekte der Melancholie“ ihre gegen die Interpretation von Kunstwerken gerichtete Haltung, die sich für die Verschmelzung inhaltlicher mit formalen Erwägungen ausspricht, auf die Fotografie ausdehnt. Die Fotografie kann danach als eine künstlerische Form aufgefaßt werden, die die Vergänglichkeit des Menschen unmittelbar berührt: “ Fotos zeigen Menschen so unwiderruflich gegenwärtig und zu einem Zeitpunkt ihres Lebens; sie stellen Personen und Dinge nebeneinander, die einen Augenblick später bereits wieder getrennt waren, sich verändert hatten und ihr eigenes Schicksal weiterleiten. (…) und gerade die Verknüpfung von Fotografie und Tod verleiht allen Aufnahmen etwas Beklemmendes.“3 Die Porträts auf den Grabsteinen erinnern zwar an die verstorbenen Personen, zeigen aber auch zugleich die Unwiderbringlichkeit des Zeitpunktes in ihrem Leben, der durch die Fotografie festgehalten werden sollte. Das menschliche Interesse an der Rekonstituierung des Lebendigen, das sich zum Beispiel auch in der Praxis zeigt, verstorbene Menschen durch Wachsfiguren zu repräsentieren, in der Absicht, der Absolutheit des Todes etwas entgegenzusetzen oder die Macht einer Person darzustellen, bleibt immer einer ambivalenten Wirkung ausgesetzt, denn die Mittel, die die Lebendigkeit rekonstituieren helfen, sind gleichzeitig beredte Aussagen über das, was sie ungeschehen zu machen versuchen. In diesem Feld gibt es keine Eindeutigkeit. Die Problematik verdichtet sich nochmals in der dem nichtkünstlerischen, angewandten Bereich der Fotografie angehörenden Leichenfotografie, die den toten menschlichen Körper dokumentiert. Iris Därmann vergleicht die Portätfotografie mit einer Guillotine: „Die Guillotine ist eine Porträtmaschine, die jene Gesichter erzeugt, welche Bildtechniken über die Zeit ihres Ausdrucks hinaus aufnehmen. 1839 wird die Fotografie diese doppelte Funktion übernehmen, guillotinieren und speichern in ein und demselben Augenblick.“4
Die Künstler- und Künstlerinnenporträts sind exemplarisch von dem Problem betroffen, daß sich ihre „Vertäuung mit der Realität“ relativ schnell verliert, oder wie Susan Sontag formuliert hat, daß sie, „sich aus der Zeit lösend, in eine abstrakte Vergangenheit“ triften.5 Die „abstrahierte Vergangenheit“, die auf die Künstlerinnen und Künstler wartet, ist die Kunstgeschichte. Die damit verbundene Anerkennung eines Künstlers oder einer Künstlerin, die über den Tod hinaus reicht, kann motivationales Element der künstlerischen Arbeit sein, ist aber aus der Sicht eines Künstlerbildes, das nicht die „creatio ex nihilo“ für sich in Anspruch nimmt, nicht das Wichtigste. Für Reusse stand sein fotografisches Porträtieren von Kollegen und Kolleginnen lange Zeit mit der Frage in Zusammenhang, inwieweit Obsessivität für eine künstlerische Arbeit eine Rolle spielt (z.B. im Gegenüber zu Hermann Nitsch). Er wollte für sich die Frage beantwortbar machen, ob und wann Obsessivität zur Strategie wird, und damit der emotionale Bereich gestört wird, oder ob es sich um z.B. echte Verzweiflung handelt, die zu den Arbeiten führt. Als „Collaborations“ mit den Künstlern und Künstlerinnen sind die Porträts vor allem auch für seine eigene Positionsbestimmung von Bedeutung. Auf jeden Fall leistet Reusse mit diesen Porträts einen Beitrag zur Aufarbeitung der in den 80er Jahren vernachlässigten Künstlerpersönlichkeit.
In dem von Zitronengeruch durchzogenen als >>Lemonhouse<< betitelten Ausstellungsraum zeigt Reusse rechts neben der Tür in Bauchhöhe vor einem gelben ca. 100 x 60 cm großen auf die Wand gemalten gelben Feld auf einer schmalen Leiste stehend eine kleinformatige Version seiner dreiteiligen Fotoarbeit (24 x 18 cm) mit dem Titel >>Schmetterlingsjäger<<. Sie ist 1985/86 im Rahmen der als „Safari Deutschland“ betitelten Arbeit (Installationen/ Fotoarbeiten) entstanden. Die rahmenlosen Fotografien sind direkt mit Plexiglas verbunden (Diasec-Face-Verfahren), um ihren Bildcharakter in einen Objektcharakter zu überführen. Es handelt sich um nur leicht erkennbare Abzüge in gelb-braunem Ton, die wie Aquarelle wirken. Sie zeigen den mit einem Tropenhelm, Safarianzug und Schmetterlingsnetz sich vor dem Hintergrund eines Busches agierenden Künstler. Die Ambivalenz eines Fotos, das eine Bewegung festhält konzidierend, stellt eine Abfolge (Sequenz) von Fotos dennoch die Bewegung dar. Sobald es um Bewegung geht, geht es um Leben/Lebendigkeit d.h. für Reusse, daß „Geschichten erzählt werden“, die man in Analogie zum Kino als „kinematographische Bilder“ betrachten kann. In dieser Form bewegt sich die Fotografie zwischen Leben und Tod. Oder wie Susan Sontag festgestellt hat: „Das Leben ist ein Kino, der Tod eine Fotografie.“6 Selbst wenn man sich dadurch an seine früheren Aktionen/Performances erinnert fühlt, geht es auch in diesem Zusammenhang um eine Aussage über Fotografie bzw. die formale Funktion eines Inhaltes: Safari-Fotos sind für Reusse der Inbegriff der Fotografie. Es geht nicht um das, sondern das Sujet ermöglicht das Fotografieren um des Fotografieren willens.7 Mit der Auswahl des keinen Formates findet durchaus eine Gewichtung statt, die den anderen Objekten im Raum, die erst vor kurzem in seinem Kölner Atelier entstanden sind, größeres Gewicht verleiht. Die älteren Fotoarbeiten haben im Vergleich mit Ihnen betrachtet, bereits eine Leichtigkeit entwickelt, die sie als hisorisch-prozessuales d.h. permutierbares Element qualifiziert. Format und Materialpräsenz spielen nur noch in einer Art geläuterten Form eine Rolle. In der Mitte der Vitrine(30 x 33 x 40 cm) liegt ein kleinformatiges Papier, auf dem eine mit Tusche hergestellte Rorschachfigur zu sehen ist. Über der Zeichnung hängt ein in der Anatomie verwendetes fleischfarbenes Demonstrationsgehirn aus Latex, das mit einem Faden an der Decke des Ausstellungsraumes, der durch ein Loch (Durchmesser ca. 2 cm) in die Vitrine führt, befestigt ist. Es handelt sich um ein unbearbeitetes Demonstrationsgehirn, d.h. die verschiedenen Areale des Gehirns sind nicht bezeichnet. Reusse geht es um die Gesamtform und er hat den Punkt der Befestigung des Fadens an der Unterseite des Gehirns so gewählt, daß auf witzige Art ein wie beim Metzger abhängender Tierkörper/Vogelkörper („Hähnchen“) wahrnehmbar wird. Die in der Vitrine ausliegende Zeichnung und die auf den Decken präsentierten Holzarbeiten stehen in einem prozessualen Zusammenhang; Die Rorschachfigur ist naturgemäß zufällig entstanden und dann vom Künstler zu zwei großen symmetrisch in Holz (Multiplex) geschnittenen Figuren (ca. 150 x 70 cm) ausgewertet worden. Die Zweidimensionalität der in der Vitrine ausgelegten Zeichnung ist durch die am Rand sichtbare Schichtung des Multiplexmaterials (2o mm) in einen auf Flachheit beruhenden Objektstatus, der an eine Laubsägearbeit erinnert, überführt worden. Das Holz ist roh belassen, so daß sein Materialcharakter mit den Filzdecken, die unter den Rorschachobjekten liegen, ungestört zusammmenwirken kann. Die präzis und kantig geschnittenen Objekte liegen auf jeweils zwei unterschiedlich großen und verschiedenfarbigen, unsauber geschnittenen und grob umsäumten Filzdecken. Auf den unteren dunkelgrünen Decken (1,80 x 1,40 m) liegen kleinere Decken (1,60 x 1,20 m), eine rosafarbene und eine hellgrüne Decke. Stephan Reusse denkt an Teichblumen, wenn er seine Arbeit betrachtet. Die Präsentationseinheiten sind, ausgerichtet an der mit der Türöffnung vorgegebenen Mittelachse des Raumes, auf der die Vitrine steht, auf auseinanderstrebenden Diagonalen im Einzugsbereich der Seitenfenster plaziert.
Medizinisch gesehen ist das Gehirn derjenige Teil des Körpers, der anzeigt, ob der Tod eines Menschen vollständig eingetreten ist (Hirntod). Das Gehirn führt also ein gewisses vom Körper unabhängiges Eigenleben. Ein Herz, das nicht mehr schlagen will, macht noch keinen Toten aus. Man könnte schlußfolgern, daß der Körper unter dem Regiment des Hauptes steht. Dieses Bild ist geeignet (hierarchische) Ordnungen vorzustrukturieren bzw. ihnen konkludent zugrunde zu liegen. Das Gehirn ist eine Superschalttafel und zugleich auch ein Transformator, indem es Erfahrungen abstrahiert (symbolisiert) d.h. einen dauernden Prozeß der Ideation betreibt. Es gibt keine tabula rasa, sondern Erfahrungen sind immer reflektierte Erfahrungen. Dabei handelt es sich um einen beweglichen, auf Selbstreglation beruhenden Prozeß, denn der „durchlaufende Erfahrungsstrom verändert den Charakter des Gehirns“.8 Wenn Künstler und Künstlerinnen auf non-verbalem Weg d.h. in sinnlich künstlerischer Form die Wertigkeit des Gehirns für ihre eigene Arbeit bestimmen, geht es auch um das Problem der Ordnung und Unordnung und die Frage, wie man zu anderen Bildern und Wahrnehmungen kommen kann, die „den Charakter des Gehirns“ verändern. Reusse, der mit der kleinen Rorschachzeichnung den Zufall in seine Intentionalität aufgenommen hat, geht es darum, einen Punkt zu finden, an dem bestehende Denkmuster evolutiv verändert werden. Im Rahmen seiner Ausführungen über stochastische Prozesse9 , die seine Darstellung des Zusammenhanges von Geist und Natur vorbereiten, erklärt Gregory Bateson: „Für die Herstellung einer neuen Ordnung ist das Wirken des Zufälligen erforderlich. „Wenn ein Lernprozeß alle seine Differenzierungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, kann nur eine Entleerung weiterführen, die Bateson als „Rückkehr zum Ei“ veranschaulicht. Sie ist im Prozeß des Werdens und Vergehens der Natur angelegt. „Die letzte unbefleckte weiße Seite des Buches zu erreichen“10 wäre z.B. der Wunsch nach der Entleerung eines (mit Wissen) gesättigten Gehirns. Daß dies nicht möglich ist, steht außer Frage, aber die Vorstellung deutet auf eine Haltung hin, die das Denken als evolutive Bewegung betrachtet und sie immer wieder zu erreichen versucht. Das leicht an einem Faden über der Rorschachzeichnung schaukelnde Gehirn, macht die Distanzierung des Gehirns von sich selbst auf witzige Art anschaulich. Das Ganze findet in einer wohlriechend nach Limonen riechenden Sphäre statt, in der die Rorschachobjekte, die die Aufnahme der Beziehung zum Unbewußten katalysieren können, sanft auf Decken abgelegt sind, damit keine unvorhergesehene Erschütterung den eingeleiteten Prozeß stören oder vorzeitig abbrechen kann.
Marietta Franke, Köln 1994
- Unter dem Leitgedanken „artist & artist“ zeigte der KV Speyer Arbeiten von Stephan Reusse zusammen mit Arbeiten von Hubert Faath. Zwischen den Künstlern besteht ansonsten keine Verbindung.
- Auf einem langwierigen quasi alchemischen Weg hat sich Reusse ein Verfahren erarbeitet, bei dem er seine Porträtfotografien in einem keramischen Prozeß haltbar machen kann, während die auf chemischen Weg entwickelten Fotos max. 50 Jahre erhalten bleiben, bevor sie zerfallen. Reusse würde seine Patten gerne vergrößern, so daß die fotografierten Personen im Maßstab 1:1 wiedergegeben können. Allerdings gibt es keine Brennöfen, die zugleich mit einer Hitze von 1300 Grad Celsius arbeiten und das brennen einer derart großen Reproduktionsfläche erlauben. Optimal wären die fotografischen Platten präsentiert, wenn man sie an die Wände von Innenräumen einlassen würde.
- Susan Sontag: über Fotografie; New York 1977; Frankfurt (1980) 1989, S.72 vgl. auch Reusses Thermographien, die die verbleibenden Wärmestrahlen/Wärmeabdrücke eines abwesenden Körpers sichtbar machen. Klaus Honnef (Kunstforum International Bd.64, 1986) schreibt im Zusammenhang mit den Thermographien: „Die Fotografie ist das Zeugnis eines Abwesendsein von etwas Abwesenden. Die Aufnahmen Reusses halten etwas fest, das gar nicht mehr vorhanden war, als das Bild gemacht worden ist.“
- Iris Därmann: Noch einmal :3/4 Sekunde, aber schnell; in: Ausst. kat. >>Zeitreise, Bilder/Maschinen/Strategien/Rätsel<< (Georg Christoph Tholen/Michael Scholl/Martin Heller Hrsg.); Zürich (Museum für Gestaltung)1993, S.189-206, S.192.
- Susan Sontag, ebd., S.73
- Susan Sontag: Vorwort in Ausst.kat. Peter Hujar. S.10.
- Reusse schreibt zu der Arbeit „Safari Deutschland“: „Auf der Reise trifft der Autor auf tote Objekte/Tiere und vergißt sofort, daß er sie nicht selbst erlegt hat. Das Abenteuer Fotografie beginnt, als in einer Großwildjagd-Performance die verschwundenen Bilder wieder hervorgemalt werden. Die Suche nach dem Moment zwischen Ereignis und Inszenierung mündet ins Kino.“
- Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst; Cambridge (University Press) 1942, 1951,1957; Frankfurt (1965) 1984, S.50f.
- Gregory Bateson: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit; 1979; Frankfurt (1982) 1993, S.31: „insbesondere werde ich davon ausgehen, daß das Denken der Evolution insofern gleicht, als es ein stochastischer Prozeß ist.“ S.276, Glossar: „Wenn eine Abfolge von Ereignissen eine Zufallskomponente mit einem selektiven Prozeß verbindet, so daß sich nur gewisse Ergebnisse des Zufälligen durchhalten können, dann soll diese Abfolge stochastisch sein.“
- vgl. Zitatzusammenhang/Thomas Bernhard bei Peter Gendolla: Verdichtungen. Das Gehirn der Literatur als Zeitmaschine; in: Asst.kat. >>Zeitmaschine (…), ebd. S.379-390, S.379f.