Marietta Franke
In Between / Künstlerische Öffnungsprozesse bei Stephan Reusse
Einleitung
- Blindheit – Künstlerischer Prozess – Joseph Beuys
Künstlerischer Ort: Kryptofotografie, Sumpfblüten/Pissflowers,
Künstler-Portraits - Zynismus – Ekel – Humor – Harry Kramer
Künstlerischer Ort: Teppiche, Sumpfblüten/Pissflowers, Künstler-Portraits - Performance – Giraffen, Elefanten, Wölfe und andere Tiere
Künstlerischer Ort: Kinematografische Bilder/Safari Deutschland, Wölfe - Begegnung – Zusammenarbeit – Inszenierungen
Künstlerischer Ort: Künstler-Portraits/Collaborations I und II,
Teppich/Aborigine Nanjua - Fotografie – Tod – Gehirn – Geruch – Bewegung
Künstlerischer Ort: “Lemonroom”, 1994 - Abwesenheit – Abstraktion – Mark Rothko
Künstlerischer Ort: Thermografische Bilder - Bewegte Bilder – Lichtskulpturen
Künstlerischer Ort: Laser-Arbeiten, Neon-Arbeiten
Darum vertrauen die Menschen auch einem winzigen Holz ihr Leben an
und bleiben, auf einem Floß die Wogen durchschiffend, wohlbehalten.
Weisheit 14,5
Das Leben ist ein Kino, der Tod eine Fotografie.
Susan Sontag
Wir werden nur dann etwas machen, wenn wir bereit sind.
Peter Brook
Ich will nicht denken. Ich denke, dass ich nicht denken will.
Ich darf nicht denken, dass ich nicht denken will.
Weil das auch wieder ein Gedanke ist.
Jean-Paul Sartre
In den 1970er Jahren befand sich die Fotografie in einem Pilotraum, dessen Verortung im Feld der Kunst keineswegs entschieden war. Die Fotografie brauchte bis in die 1980er Jahre, um in ihrem künstlerischen Potential wahrgenommen werden zu können, auch wenn Fotografen wie Eadweard Muybridge und Karl Blossfeldt die Möglichkeiten des wissenschaftlich gefilterten Blickes, Alexander Rodschenko die Unabhängigkeit von Formalisierungen und Perspektiven und Walker Evans die Bildwürde sozialer Beobachtungen längst gezeigt und damit die künstlerische Wahrnehmung beeinflusst hatten.
Als Stephan Reusse (geb. 1954) Ende der 1970er Jahre an der Essener Folkwang-Schule das Handwerk der analogen Fotografie erlernte und sich im Rahmen einer fotojournalistischen Ausbildung mit ihrem dokumentarischen Potential auseinandersetzte, gab es noch keine selbstverständliche Verbindung zwischen der Fotografie und künstlerischen Bild- und Handlungsformen. Zum Beispiel hatte Urs Lüthi 1974 im Rahmen der “Transformer”-Ausstellung im Kunstmuseum Luzern ein künstlerisches Statement zugunsten des fotografierten Bildes als Kommunikationsmittel der Selbstinszenierung abgegeben, Katharina Sieverding großformatige Schwarz/Weiß-Fotografien gezeigt, wie sie die Düsseldorfer Kunstszene beschäftigten, und Jürgen Klauke 1980/81 mit der “Formalisierung der Langeweile” das künstlerische Potential der experimentellen Beziehung zwischen Fotografie und Performance in eine unverwechselbare Form gebracht.
Reusse studierte von 1980-1986 an der Kunstakademie in Kassel. Harry Kramer lud ihn ein, in seine Klasse zu kommen, in der sich Studenten aus verschiedenen Bereichen, auch darstellende Künstler, Musiker und Tänzer trafen, die ihren künstlerischen Handlungsspielraum im Feld von Aktionen, Performances und Fotografie suchten. In dieser Zeit begann Reusse mit dem Hervormalen und Verschwindenlassen von Fotografien. Die lebensgroßen Tier-Fotografien (Giraffen, Elefanten usw.) und die “Safari Deutschland”-Sequenz, performancehafte Selbstinszenierungen im Sinne einer “cinematic photography”, entstanden in dieser Zeit. Seiner Werkgruppe von Künstler-Portraits, die damals an die künstlerische Mitwirkung der fotografisch Portraitierten beim Entwickeln (Collaborations I, 1982-1989) gebunden war, führte er über qualitative und perspektivische Veränderungen hinweg (Collaboraions II) bis 2003 fort.1984-1986 entwickelte er im Rahmen der “Organic Systems I“ eine Serie von mit Urin/Harn hervorgemalten Pflanzen, den “Sumpfblüten/Pissflowers” (portugiesisch: flores do paul), die er 1996 noch einmal wiederbelebte. In den 1980er Jahren ging es noch darum Unikate zu schaffen, die der Frage nach der Reproduzierbarkeit standhalten konnten, die Fotografie in malerischen Gesten aufzufangen oder sie im Rahmen einer Performance in Kunst zu transformieren. Damals waren künstlerische Filter gefragt, die von dem fotografischen Vorgang ablenken konnten. Reusses künstlerische Arbeit ist auch durch seinen zweijährigen Arbeitsaufenthalt in Kalifornien/USA (1988/1989), ein Jahr davon im Rahmen eines DAAD-Stipendiums, beeinflusst worden. In dieser Zeit kam er mit dem direkten, an soziale Botschaften und Gesellschaftskritik geknüpften künstlerischen Arbeits- und Denkweisen des California Institute of Arts (CalArts) in Los Angeles in Berührung, unternahm seine großen Reise (“Big Trip“) durch Amerika und begegnete Künstlern wie John Baldessari, Nancy Spero, Leon Golub, Mike Kelley, Tony Oursler, Jeff Koons. 1999 hielt sich Reusse ein weiteres Jahr in Kalifornien auf, um an der California State University Long Beach/Los Angeles zu lehren und dabei auch Vorträge über seine künstlerischen Erfahrungen mit Fotografie und medienreflexiven Handlungsräumen zu halten. Von 2000-2006 lehrte er an der Kunsthochschule für Medien in Köln.
“In Between” ist als Abhandlung über die Entwicklung der künstlerischen Arbeit Stephan Reusses von 1983 bis heute angelegt. Sie stellt die Vernetzungen zwischen den Werkgruppen und die mit ihnen verbundenen künstlerischen Öffnungsprozesse dar. Die Bezüge seiner Arbeit zu anderen Künstlern ist vielfältig, wobei Harry Kramer als sein Lehrer an der Kunstakademie in Kassel eine besondere Rolle einnimmt, und Joseph Beuys und Paul Thek aufgrund ihrer Haltungen besondere Zuwendung in ihm hervorgerufen haben, weil ihr künstlerisches Denken den Blick auf den Menschen/die Menschen zulässt. Das Experimentelle, die Performance, die “apparativen Realitäten” (S. R.), die Fotografie in ihrer Verknüpfung von Form und Inhalt und ihren möglichen Verschaltungen mit abstrakter Malerei, die imaginären “Licht-Skulpturen“ (S. R.), die Lichtzeichnungen der “Neon-Arbeiten“, die medienreflexive Aufmerk-samkeit ebenso wie direkte Annäherungen und die Arbeit an authentischen, unverbrauchbaren Bildern verweben sich zu einem künstlerischen Werk, das Reusse, auch gegen sich selbst denkend, immer wieder befragt und, wie seine neuen Laser-Arbeiten in besonderer Weise zeigen, in seinen im Abstrakten liegenden Möglichkeiten zu intensivieren weiß.
Seit 1994 erlebe ich die Entwicklung seiner künstlerischen Arbeit mit. Seither habe ich verschiedene Texte geschrieben. Der Text für das vorliegende Buch ist auf Einladung Reusses entstanden. Ich bedanke mich für seine Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Gesprächsbereitschaft.
Marietta Franke -Im Juli 2010
Blindheit – Künstlerischer Prozess – Joseph Beuys
Künstlerische Orte:
Kryptofotografie
“Sumpfblüten/Pissflowers”
Künstler-Portraits
Zwischen 1982 und 1986, noch während seiner Studienzeit an der Kunstakademie in Kassel, führte Reusse verschiedene Performances in Kassel, Göttingen, Kleinsassen, Rosdorf, Frankfurt, Paris, Porto und Lissabon durch, die er Kryptoaktionen nannte. In ihrem Rahmen ließ er fotografische Bilder verschwinden, die er dann wieder hervormalte. Als kryptisch werden Vorgänge/Dinge bezeichnet, die im Verborgenen stattfinden, mit einem Geheimniswert verbunden und daher schwer verstehbar, auch mit Unklarheit behaftet sein können. Reusse hat sich damals als Hersteller kryptischer Bilder verstanden, die in ihrer Offenheit und Mehrdeutigkeit beunruhigend wirken.
Harry Kramer, bei dem Reusse studierte, schrieb 1986 einen Text zu den Kryptoaktionen. Er nimmt das Höhlengleichnis Platons zum Ausgangspunkt für seine Reflexion über die Fähigkeit fotografischer Bilder, die Realität zu durchdringen und nach verborgenen Mitteilungsebenen zu suchen, die die Sichtbarkeit der Realität in Frage stellen. In Platons Höhlengleichnis wird eine Denklinie von der täuschenden Schatten-Realität der Gegenstände zu der ungegenständlichen Realität der Ideen aufgebaut, die nur im Rahmen einer widerstandsbehafteten und schmerzhaften Befreiung von falschen Bildern möglich wird. Der einzelne macht sich gegen den Strom der Masse auf den Weg aus der Dunkelheit an das Licht auf, um aus der Welt der Unklarheit in die Klarheit zu treten. Dieses idealistische Denkgebilde hat Reusse als Eintrittskarte in die Welt anderer Wahrnehmungsformen genutzt, indem er es zunächst auf die Wahrnehmung von Blinden bezogen hat. Blinden ist die sichtbare Welt unzugänglich, während sie andere Weisen der Wahrnehmung, zum Beispiel über das Gehör oder den Körpersinn, ausbilden, die mit einer intensivierten Wahrnehmung der Welt verbunden sein können.
Reusse fotografierte Fotografien von Blinden aus dem 19. und frühen 20. Jahrhunderts ab, ließ sie mit Halogensilber wieder verschwinden und malte sie in einer Aktion mit einem Pinsel auf einem großen Fotopapier mit Natriumsilber überlebensgroß wieder hervor. Dabei war er von der Vorstellung motiviert, sich “blind dem eigenen Konterfei auszusetzen” (S. R.). Reusse fasst die Blinden-Bilder als chiffrierte Aussagen über politische Gedanken auf, die die Frage nach dem menschlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die mit einer organisch begründeten Andersheit leben, öffnen. In der Illusion der Normalität gefangene Menschen können nicht damit umgehen, eine Frage, die Reusse darüberhinaus auch provokativ-hinterfragend auf den diskriminierenden Umgang mit körperlich benachteiligten Menschen bis hin zu Strukturen faschistischer Menschenverachtung und Euthanasie verstanden wissen wollte.
Kramer schreibt: “Die von ihm entwickelte Kryptophotographie muß zwischen Photographie und Malerei eingeordnet werden; das heißt, da, wo sie sich als Aktion präsentiert und lesbare Produkte hinterläßt.” Fließspuren und Spritzer, die die gestischen Hervormalungen zu einem geronnenen Bild werden lassen, thematisieren die Malerei in ihrer Prozesshaftigkeit und zeigen auch, dass man Fotografie hervormalen kann. Nach Kramer blendet Reusse die soziale Eigenschaft der Fotografie aus, denn die Blinden können ihr Abbild nicht sehen. Kramer schreibt dazu: “Das Abbild eines Abbildes wird zur doppelten Metapher eines blinden Portraits und eines Zustandes.”
Reusse teilt in seiner Kryptofotografie auch mit, dass ihn das sichtbare Licht als Parameter der Fotografie nicht interessiert. Er will andere Wege der Wahrnehmung und damit seine eigenen künstlerischen Parameter finden. Die Blindheit wird zum Bild des notwendigen künstlerischen Findungsprozesses. Das gleiche Verfahren setzte Reusse auch bei seiner 1982 beginnenden Werkgruppe der Künstler-Portraits ein: Die Portraitierten erhielten ihr zuvor zum Verschwinden gebrachtes Foto, um es selber wieder hervorzuarbeiten und verwandelten es damit aus dem weißen Zustand der Unsichtbarkeit beziehungsweise Blindheit in das sichtbare Gegenüber ihres Bildes.
Eine frühe Portraitarbeit, bei der die Thematisierung der Blindheit in den Entwicklungsprozess eingegangen ist, das heißt Form und Inhalt der künstlerischen Mitwirkung und das fotografische Bild sich gegenseitig evozieren, umfasst in verschiedenen Entwicklungsphasen fixierte Hervormalungen des Portraits von Joseph Beuys (1985, 2-teilig, Urin auf Halogensilber, 150×118 cm). Aus einer gebrochenen weißen Fläche scheint in geringem Helligkeitsunterschied schemenhaft sein Gesicht durch eine Fettschicht, die seine eigene künstlerische Material- und Prozessauffassung repräsentiert. Sie erinnern an das skiagraphische Bildverfahren von Henry Fox Talbot (1800-1877), bei dem Licht und Schatten der Fotografie vertauscht sind. Die Weißheit des Bildes steht für die Blindheit, wobei die Frage, ob es sich um ein Licht- oder ein Schattenbild handelt, inhaltlich offen bleibt. Ein anderes Beuys-Portrait zeigt nur den Hut des Künstlers als Erkennungsmerkmal, während das Gesicht wiederum schemenhaft in der Weißheit des Fotopapieres verborgen ist. Für die fragmenthafte Entwicklung seines Portraits hatte Beuys seinen eigenen Urin/Harn zur Verfügung gestellt.
Reusses Hervormalungen von fotografierten Bildern mit Urin/Harn, die auch bei seiner 1983 einsetzenden Werkgruppe der “Pissflowers/Sumpfblüten” zum Einsatz gekommen ist, gehört zu der Gruppe von Kunstwerken, die wie Andy Warhols Oxidation Paintings (1977) der Spur des Urinoir von Marcel Duchamp (1917) folgend, Urin/Harn in den künstlerischen Prozess hineinnehmen. Als vom menschlichen Körper produzierte Flüssigkeit dient Urin/Harn, organisch/biologisch gesehen der Reinigung des Blutes, kann aber er auch mit Ekel oder sexuell besetzt sein oder in therapeutischen Prozessen Verwendung finden. Kulturgeschichtlich betrachtet, wurde Urin/Harn als Chemikalie zur Reinigung, in Gerb- und Färbeprozessen, beim Töpfern und in der Herstellung von Porzellan verwendet. Der Sinologe und Biochemiker Joseph Needham veröffentliche 1968 gemeinsam mit Lu Gwei-Djen seine Erkenntnisse über die Verwendung von Harn in therapeutischen Zusammenhängen, die auf den chinesischen Taoismus zurückgehen, der neben Meditation, Diätetik, Alchemie und Gymnastik, sexuelle Praktiken zur Verlängerung des Lebens und zur Unsterblichmachung des Körpers einsetzte. Harn galt als Mittel der Potenzsteigerung und wurde in unbehandelter und in hygienischer Form angereichert mit männlichen und weiblichen Sexualhormonen verabreicht.
Schon an der Peripherie des Beuys’schen Denkens zeichnet sich die Alchemie als beziehungsreiches inhaltliches Feld ab. Reusses Annäherungen an Beuys sind nicht zuletzt deshalb so intensiv gewesen, weil er sich für die alchemistische Umwandlung von Stoffen interessiert und dabei einem Künstler gegenüberstand, der, im Sinne der humanistischen Umschreibung der Alchemie, Fragen wie die nach der Beziehung von Körper und Geist und religiöse Erfahrungen (Lapis-Christus-Parallele) in seine Arbeit hinein ließ. Wie Beuys ist Reusse auch von der Notwendigkeit bewegt, die Anstrengungen im künstlerischen Prozess fortzutreiben, wo möglich zu steigern, und einen möglichen werdenden Weg zu gehen.
Die Geschichte des alchemistischen Prozesses und der Porzellanherstellung greifen in der Überblendung von Gold und Porzellan als “weißem Gold” ineinander. Die Schaltstelle des künstlerischen Interesses liegt in der Verwendung von Urin/Harn als eines vom menschlichen Körper produzierten Stoffes, der einen parallelen alchemistischen Prozess vorantreiben und der Verfeinerung des Materiales dienen kann. Die Chinesen waren schon im 6. Jahrhundert (v. Chr.) in der Lage, in ihren Brennöfen große Hitzen von 1200-1350 Grad Celsius zu erzeugen. Während in China das weiße Porzellan bereits im 6./7. Jahrhundert (n. Chr.) und das Eierschalen-porzellan um 1600 hergestellt wurde, konnte das Porzellan in Europa erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts nacherfunden werden. In den frühen 1960er Jahren gelang es Armin Weiss, die Herstellung des chinesischen Eierschalenporzellans in einem entscheidenden Punkt nachzuvollziehen, dass nämlich faulender Urin/Harn verwendet wurde, um die Porzellanmasse, das Kaolin, plastischer und durchscheinender zu machen.
Reusses Erforschung des Prozesses, in dem fotografierte Bilder zum Hervortreten/Erscheinen gebracht werden können, schließt auch einige Versuche ein, seine Porträt-Fotografien in einem keramischen Prozess für eine lange Zeitdauer haltbar zu machen, während die auf chemischen Weg entwickelten Fotos maximal fünfzig Jahre erhalten bleiben, bevor sie zerfallen. Reusse würde seine Platten gerne vergrößern, so dass die fotografierten Personen im Maßstab 1:1 wiedergegeben werden können. Allerdings gibt es keine Brennöfen, die zugleich mit einer Hitze von 1300 Grad Celsius arbeiten und das Brennen einer derart großen keramischen Reproduktionsfläche erlauben. Optimal wären die Keramikplatten präsentiert, wenn sie in den Boden von Innenräumen eingelassen würden. Mit dem Einlassen der Künstler-Portraits in den Boden würde sich auch, wie bei den Teppichen Reusses, die Frage, ob der Betrachter sie betreten oder nicht betreten oder darum herumgehen soll, einstellen.
Die “Sumpfblüten/Pissflowers” (zum Beispiel Nelken, Callas) die im Prozess des Hervormalens nicht als in ihrer Fülle stehende Blumen, sondern in einer verletzten Ästhetik sichtbar werden, kündigen in ihrem fragmenthaften Hervortreten schon ihr Verschwinden an. Sie geben ihre Zartheit und Verletzbarkeit zu, die es ihnen nicht möglich macht, als machtvolles, Ewigkeit beanspruchendes schönes Motiv aufzutreten, sondern in einer gebrochenen Bildlichkeit die Vergänglichkeit/Vanitas alles Lebendigen und Schönen einzugestehen. Reusse trifft die Blumen in diesem Zwischenraum an und gewährt dem Betrachter durch ihre Vergrößerungen eine Nahsicht auf die abstrakten Spuren des Hervormalungsprozesses, die, untrennbar mit dem fotografierten Motiv verknüpft, seine Gegenständlichkeit auflösen und es in eine künstlerische Wirklichkeit überführen. Der Betrachter kann den Spuren mit den Augen folgen und sich dabei in vielen Bildern fließend an der Grenze von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit bewegen, die prozessuale Geographie des Bildes durchwandern, um dann, zurücktretend, in einer distanzierten Gesamtansicht eine “Sumpfblüte/Pissflower” zu erkennen. Wenn die Schönheit als möglicher Inhalt einer Fotografie zurücktritt, werden andere inhaltliche Dimensionierungen geöffnet wie zum Beispiel die Veränderungen/Anpassungen von Pflanzen in der Evolution oder ihre kulturellen Bedeutungen als Heilmittel. Als Symbole in Gemälden können Pflanzen/Blumen von einem umfangreichen Hof von kulturellem Wissen und Geheimwissen umgeben sein. Sie können auch von experimentierenden Menschen, die von anthropologischen Fragen getrieben sind, wie zum Beispiel Antonin Artaud, Aldous Huxley, Henri Michaux oder Carlos Castaneda, (Peyote) an der Schwelle zu anderen Kulturen, ihren Ritualen und Beziehungen zum Unbewussten aufgefunden werden und kulturkritische Potentiale freisetzen. In dem Gespräch zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, das der Schamane sicherstellt, wenn es gilt, die Seele eines kranken Menschen suchen zu gehen, werden sie zum Schlüssel anderer Wahrnehmungen und eines anderen Denkens in anderen/fremden Kulturen, etwa als Nahrung für die Seele oder heilige Pflanzen, die “den Menschen zur Ekstase hinrissen, ihn aus sich heraustreten ließen, um den Göttern zu begegnen.“ Sie boten “Möglichkeiten für die Kommunikation mit dem Unsichtbaren, den Kräften des Übernatürlichen, die den Naturerscheinungen zugrunde lagen und sich gewöhnlich nur durch sie zu erkennen gaben.” Reusses “Sumpfblüten/Pissflowers” bedienen sich nicht eines ikonographischen Codes. Im Zusammenhang mit seinen Kryptofotographien und seinen Thermografien, den Wärmeschatten-Bildern realer Körper und Gegenstände, betrachtet, stellen sie eine weitere Möglichkeit dar, den künstlerischen Blick im Feld des sichtbar gemachten unsichtbaren Spuren legen zu lassen.
Reusse eröffnete mit seinem Beuys-Portrait einen nicht begradigten, komplexen Dialog, in dem mit der Frage der Blindheit verschiedene künstlerische Fragen wie die Frage des künstlerischen Prozesses, der organischen Systeme im menschlichen Körper, die Begegnung mit einem anderen Künstler, seinem Denken, Werk und Menschsein, in die Frage nach seiner eigenen künstlerischen Wahrnehmung eingewoben werden. Das Beuys-Portrait ist bisher das einzige Künstler-Portrait, das es auch in Form eines Teppichs gibt.
In zwei Arbeiten aus Reusses Werkgruppe von Teppichen finden sich in Blindenschrift eingewebte verschlüsselte Botschaften. Reusses Teppiche sind nicht nur eine einfallsreiche künstlerische Hinzufügung an der Grenze von Kunst und Design, sondern sie zeigen eine über das Material wirkende Gestalt, die auf einem flachen Gewebe beruht, das dreidimensional aufgebaut wird. Die Oberfläche der Teppiche wirkt in ihrer Dichte und Dicke körperhaft und zugleich wie ein eigener Raum; von Hand gefertigt, stellen sie einen Gegensatz zu den glatten, spiegelnden und verschlossenen Acrylglas-Oberflächen seiner im Diasec-Verfahren hergestellten fotografischen Bilder dar. Ihre von Hand gefärbte Wolle ermöglicht changierende und daher lebendige Farben, ein Innenleben des Teppichs bis in den einzelnen Faden. In der Kultur des Orients/Morgenlandes stehen Teppiche in einer engen Verbindung zum alltäglichen Leben und stellen zugleich künstlerische Leistungen dar, die sie von der abendländischen Kultur unterscheiden. Auf Teppichen wird geschlafen, gegessen, gebetet und betrachtet. Teppiche entstehen anonym, die Frage der künstlerischen Autorschaft hat keine Bedeutung. Reusse lässt seine Teppiche mit handgefärbter Neuseeländischer Wolle im Tufting-Verfahren von Hand fertigen. Wie beim Nähen mit der Nähmaschine werden die Wollfäden (Polgarn) schlaufenförmig in eine schon bestehende Gewebefläche (Erstrücken) eingearbeitet und später aufgeschnitten worden (Velourteppich). Der Teppich “Organic Systems/Hanging Brain” (1995, 280×180 cm) zeigt in rechteckiger Gesamtform ein fleischfarbenes Gehirn auf einem rotem Grund, in dessen dunkelrotem Rahmen, ebenfalls fleischfarben, die Worte “sehen, denken, zweifeln, verwerfen“ eingelassen sind. Der andere, überwiegend in Rosa- und Rottönen und kurviger, unregelmäßiger Gesamtform gehaltene Teppich “Organic Systems/Brain Flower“ (1999, 390×290 cm), zeigt eine Aneinanderreihung von Gehirnen in Gestalt einer Blütenranke, die mit dem Wort “Freilandhaltung” in türkisfarbenen Blindenzeichen überschrieben sind. “Hanging Brain” bezieht sich nach Reusse auf den “intuitiven Arbeitsprozess“ (S. R.), während “Brain Flower” den Wunsch nach “geistigem Durchatmen” (S. R.) berührt.
2010 fand in Wien zum zweiten Mal die Ausstellung “curated by_vienna” statt, die für eine systematische Kooperation zwischen Kuratoren und Galerien eintritt, diesmal auf filmische Bezugnahmen im Kunstbereich gerichtet. Unter den zwanzig eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen, die das Kuratieren übernahmen, war auch Stephan Reusse. Aus eigenen Erfahrungen mit künstlerischer Zusammenarbeit/ Collaborations kommend, wählte Reusse für die Ausstellung in den Räumen der Galerie Lukas Feichtner Filme aus, die in künstlerischer Zusammenarbeit entstanden sind: Found-Footage-Filme von Christoph Girardet und Matthias Müller, unter anderem die Filme “Contre-Jour” (2009, 35mm Film) und “Maybe Siam” (2010, Video). Als Hommage an seinen Lehrer Harry Kramer (1925-1997) zeigte er die in Zusammenarbeit mit Wolfgang Ramsbott (1934-1991) entstandenen experimentellen Animationsfilme “Die Schleuse” (1961, s/w 16mm Film) und “Sackgasse (Impasse)“ (1963, s/w 16 mm Film) aus den 1960er Jahren. Girardet/Müller sammelten für ihren Film “Contre-Jour” Spielfilmszenen von Augenoperationen, die im scharfen Wechsel von Licht und Schatten, im Gegenlicht, den Betrachter in eine filmische Erfahrung reißen: “Everything may seem fragmented and disjointed – but, in fact, this is a very complex and sophisticated structure.” In seiner Nähe zu Salvador Dalis und Luis Bunuels Film “Un chien andalou” (Paris, 1929), in dem ein Auge zerschnitten wird, lässt er das Sehen als Verletzbares, hochgradig sensibles, operativ-angriffshaft geöffnetes Feld erscheinen, auf dem künstlerisches Sehen nach erfahrbaren Bildern eine weitere Chance zu bekommen scheint. Der Film “Maybe Siam” trifft dann mitten in Reusses künstlerisches Herz: Er zeigt Bilder von Blinden, die sich in Räumen bewegen. Reusse hat die Filme nach den Parametern seiner künstlerischen Wahrnehmung in die Ausstellung genommen, wobei die Blindheit ebenso beleuchtet wird, wie das Verhältnis von Kunst und Kinematografie/Kino.
Zynismus – Ekel – Humor – Harry Kramer
Künstlerische Orte:
Teppiche
“Sumpfblüten/Pissflowers”
Künstler-Portraits
Reusse ist sich der zynischen Qualität vor allem seiner Kryptoaktionen bewusst. In seiner 1983 erschienen “Kritik der zynischen Vernunft” beschreibt Peter Sloterdijk das nicht aus dem akademischen Philosophengespräch, sondern aus dem Leben kommende Erkenntnispotential einer materialistischen Position, die sich jenseits von Ideologiekritik aufhält. “Der Kyniker furzt, scheißt, pisst, masturbiert auf offener Straße…“ Diogenes, der dem unbesiegbaren “listigen Dialektiker” Sokrates nicht mit Worten, sondern mit “bizzarem Verhalten” entgegentrat, brachte Platon aus der Fassung. “In der Hundephilosophie des Zynikers erscheint nämlich eine materialistische Position, die der idealistischen Dialektik das Wasser reicht.” Reusse entwarf 1997 einen hochformatig angelegten Teppich (“dog/labyrinth”, 1997/98, 180×260 cm) für einen Münchener Sammler, auf dessen Fläche ein in der Mitte platziertes Labyrinth, ein in zwei Teile fragmentierter Hundekörper an den gegenüberliegenden Teppichrändern und im unteren Bereich Spuren von Hundekot dargestellt sind. Die Bildzeichen, die Reusse dort zu einem Bildrätsel zusammengeführt hat, lassen den Gedanken an das Erkenntnispotential des kynischen Denkens wach werden. Zugleich bewegen sie sich in einem Sowohl-als-auch außerhalb der Ausschließlichkeit einer solchen Position, denn das Labyrinth als Zeichen der Selbsterkenntnis kann sich auch aus dem Nachdenken über das platonische Höhlengleichnis ergeben. Aus den Schatten der platonischen Höhle tritt Diogenes, der die idealistische Vernachlässigung des menschlichen Körpers kompromisslos vor Augen führt. Sloterdijk schreibt über Diogenes, den Hundmenschen: “Mit einem “verständnisvollen” Lächeln sich zu nähern, wäre schon ein Mißverständnis. Diogenes, den wir hier vor uns haben, ist kein idyllischer Träumer in seiner Tonne, sondern ein Hund, der beißt, wenn er Lust hat.” Und: “Eindruck machen auf ihn nur Charaktere, die es an Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit, Wachheit und unabhängigem Lebensgefühl mit ihm aufnehmen.” Und weiter: “Er ist ein wilder, witziger und listiger Typ.” Ein Bild von seinem Typ geben heute höchstenfalls “Hippies, Freaks, Globetrotter und Stadtindianer“ ab. Als Kommentar über die Fotografie betrachtet, teilt Reusses Teppich-Arbeit “dog/labyrinth” (1997) das labyrinthische Potential der Fotografie mit, ganz gleich, was die Fotografie zeigt und unabhängig davon, ob der Fotograf mit professionellem Auge oder einem amateurhaften Auge sieht. Roland Bartes schreibt: “Alle Fotografien der Welt bildeten ein LABYRINTH”, und weiterhin, Friedrich Nietzsche zitierend: “Ein labyrinthischer Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern einzig seine Ariadne.”
Für Reusse geht es nicht um die Ausschließlichkeit eines idealistischen oder materialistischen Denksystems, sondern er sieht sich als Künstler der Aufgabe verpflichtet, künstlerische Arbeits- und Bildprozesse zu finden, die eine nichtdualistische, Körper und Geist verbindende künstlerische Wahrnehmung der Welt möglich machen, die dem Betrachter sensibel und intelligent und zugleich beunruhigend entgegentritt. Reusse sieht die Notwendigkeit, “die eigene Nische zu verlassen” (S. R.) und Dialoge zu finden. Die Verwendung von Urin/Harn öffnet zum Beispiel die Nische des Ekels und der Angst der Menschen vor ihrem eigenen Körper und seinen Flüssigkeiten, eine Grenzerfahrung, die in der Verwendung des Urins/Harns einer anderen Person in ihrer Intimität noch gesteigert wird, die in der Bildatmosphäre des Portraits wie ein Geheimnis verborgen ist, eine Polarisierung, die künstlerische Wahrnehmung/künstlerisches Denken möglich macht. Sloterdijk schreibt: “Was den Zynismus angeht, so kann unser Wissen von ihm zunächst kein anderes sein, als eines der Intimität.”
Jean-Paul Sartre erzählt in seinem existentialistischen Roman “Der Ekel”, den Reusse zu Beginn der 1980er Jahre gelesen hat, auf das Sein und das Nichts blickend, die Grenze der menschlichen Existenz, wo der Ekel vor Menschen und Dingen sein Eigenleben entfaltet: Nicht nur dann, wenn die Menschen über die Verblüffung von Menschen lachen, denen etwas Unwahrscheinliches geschieht, auch dass es “keine Geheimnisse, keine Seelenzustände, nichts Unsagbares” gibt, der Selbstekel, “die IDEE (…), diese dicke weiße Masse“, schließlich das Ende, das den Anfang aufsaugt, das Verstreichen der Zeit, der Tod, dann wieder ein Wort, “das aus dem Raster der Empfindungen hervorsticht”, oder das Leben, das “in gewissen Momenten eine seltene und kostbare Realität bekommen könnte“, das Gefühl des Abenteuers, Saxophonklänge, Vögeln, üppiges Essen, genaue, manchmal überscharfe Beobachtungen, schließlich das Erzählen als Lebensform. Die Lebensatmosphäre, die Sartre beschreibt, hat Reusses Wahrnehmung als erzählerisches Gewebe in ihrer eigenen Sensibilisierung beeinflusst, ohne dass er sich der existentialistischen Verzweiflung ununterbrochen verpflichtet gefühlt hätte.
Die Frage der “Realität der Ideen” wie sie zum Beispiel Joseph Beuys in seinem künstlerischen Werk vertritt, läuft in verdichteter Form bei seinem Beuys-Portrait und auch bei allen anderen Künstler-Portraits mit, wobei das künstlerische Denken der Portraitierten in eine Leerstelle eintritt, die Reusse in ihrer Beteiligung an dem Hervorarbeiten oder weiteren Gestalten seiner fotografischen Bildern angelegt hat. Dabei qualifizieren die künstlerischen Positionen der Portraitierten seine Fotografien über die verwirklichte Zusammenarbeit als Kunst, tragen den Geruch ihrer Kunst in Reusses Fotografie hinein, während sie gleichzeitig im fotografischem Blick Reusses einer Befragung unterzogen werden. Die Wertschätzung, die Reusse dem Künstler und Menschen Joseph Beuys entgegenbringt, wird in dem Portrait zum Spiegelbild mit Kehrseite, auf der er selbst erscheint. Sloterdijk schreibt über die “Psychosomatik des Zeitgeistes“: “Zynismus ist eine der Kategorien, in denen das moderne unglückliche Bewußtsein sich selbst ins Auge sieht.” Reusse stellt keine trösten wollenden oder utopischen Bilder her. Nicht zuletzt beeinflusst durch das in Gertrude Steins Einsicht “a rose is a rose is a rose” formulierte nichtinterpretative Verhältnis zur Realität, zeigt er zeitgeistige Bilder, die sich in den 1990er Jahren, nach seinem Aufenthalt in den USA von der selbstreflexiven und legitimierenden Qualität der frühen Arbeiten gelöst haben und “direkter geworden sind“ (S. R.).
In seiner Auseinandersetzung mit Beuys begegnete Reusse auch einer künstlerischen Haltung, die dem Künstlerbild, das sein Lehrer Harry Kramer für sich entworfen hat, gegenüberstand. Harry Kramer wurde als erster Künstler nach seinem Tod 1997 auf dem von ihm auf der “documenta 7” 1982 initiierten, später als Landschaftspark angelegten Künstlerfriedhof im Habichtswald bei Kassel beerdigt. Zwischen 1992 und 2003 verwirklichten dort Künstler wie Rune Mields, Tim Ullrichs, Fritz Schwegler und Ugo Dossi skulpturale Arbeiten als Grabplastiken. Kramer thematisierte in seinen kinetischen Plastiken Bewegung und Stillstand, und formulierte in der Ausdehnung seines künstlerischen Nachdenkens auf die Rolle, die Aufgaben der Künstler und ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf den öffentlichen Raum, eine dem Beuys’schen Anspruch konträre Haltung. Beuys wollte die künstlerische Einsamkeit hinter sich lassen, während Kramer die Auffassung vertrat, dass “die Melancholie, Einsamkeit und Repräsentanz des Berufes” einzig eine Selbstinszenierung/Selbstrealisierung bei der Gestaltung des eigenen Grabes erlaube; auf kulturpolitische Vorgänge oder gar auf weitergehende gesellschaftliche Entwicklung hätten sie keinen Einfluss, es sei denn sie wollten sich als Künstler selbst auflösen/entkräften. Beuys dagegen vertrat Handlungsformen und Handlungsmöglichkeiten eines erweiterten Kunstbegriffs, der auf menschliche und gesellschaftliche Veränderungen angelegt, die Frage der Sozialen Plastik in die das Verhältnis von Materiellem und Geistigem berührende Gesamtenergiefrage überführte und mit der Gründung der Studentenpartei (1967) oder der Freien Universität (1980) auch im politischen Sinn sichtbare Darstellungsformen wählte.
Reusse hat einige Künstlerkollegen, die Beuys’sche Aufforderung “Zeige deine Wunde” aufnehmend, so portraitiert, dass die Bedrohungen und Konflikte sichtbar werden, in denen sie leben, in denen sie möglicherweise mit dem Leben hadern, etwa nach einem Unfall, in einer Krankheit oder Sucht, wobei die zynische Komponente der Inszenierungen von ihnen mitgetragen wurde, nicht zuletzt, weil sie nicht überzogen sind, sondern in offensiver Ernsthaftigkeit eine Haltung mitteilen. Das Portrait von Harry Kramer (1996, C-Print/Diasec, 180×145 cm) zeigt den Künstler umgeben von einer auf dem Trödelmarkt erworbenen und dann aufpolierten Auswahl von Gegenständen, in einem Harmlosigkeit suggerierenden Arrangement mit Spitzengardine. Kramer litt an einer Staublunge und musste künstlich beatmet werden. Er sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen im weißen Bademantel und wollenen Hausstiefeln auf einem Armlehnstuhl mit Fußbank, stützt lässig seinen rechten Arm auf. In der Hand hält er eine Zigarette, als könnte der Beatmungsschlauch, der in die Nasenlöcher eingelegt über die Wangenknochen läuft, ihn nicht davon abhalten, auch in fortgeschrittenem Krankheitszustand weiterzurauchen, im Angesicht der Vergänglichkeit des Lebens auf seiner Sucht zu bestehen. Der Zynismus wendet sich in diesem Portrait zum humorvollen Ausstellen eines ausweglosen Zustandes. César (1994, C-Print/Diasec, 180×145 cm) sitzt auf Wein- und Wodkakisten, seine Alkoholsucht zeigend. Das Portrait von Rob Scholte (1995, C-Print/Diasec, 180×150 cm) ist nach dem Unfall aufgenommen worden, bei dem er beide Beine verloren hat. Er sitzt auf einem Schrankkoffer vor dem Abfertigungsschalter eines Flughafens. Die Schuhe, die er nun nicht mehr tragen kann, sind sorgfältig vor den Holzleisten des Koffers abgestellt worden. Offenkundig blickt er fragend, nicht verzweifelt, mit einer lapidaren “C’est la vie”-Geste die Frage nach seinem Zustand in die Luft entlassend. Reusse erinnert sich, dass die Geste zunächst nicht so recht gelingen wollte. Das Leben ist nah/hart an diese Menschen heran gegangen. Dann wendet sich der Zynismus in eine selbstrelativierende Lebenshaltung, die das Geschehene ohne Moral oder Selbstmitleid im Humor der Verzweiflung annimmt, zu den gemachten Fehlern, die mehr oder weniger sichtbar sind, zu einer Schwäche steht. Der Zynismus ist demnach nicht Selbstzweck, sondern ein Weg zur Öffnung anderer Wahrnehmungsräume, die das Denken auf eine überraschend andere Spur bringen können. Reusse hat sich nicht zuletzt auch im Gegenüber zu Herrmann Nitsch, den er als einen der ersten in seine Werkgruppe von Künstler-Portraits aufgenommen hat, gefragt, inwieweit Obsessivität für eine künstlerische Arbeit notwendig ist. Er wollte für sich die Frage beantworten, ob und wann Obsessivität zur Strategie wird und ob es sich demgegenüber auch um echte Verzweiflung handeln kann, die zu bestimmten künstlerischen Arbeiten führt. Als Collaborations mit anderen Künstlern sind die Porträts vor allem auch für seinen eigenen künstlerischen Findungsprozess von Bedeutung.
Performance – Giraffen, Elefanten, Wölfe und andere Tiere
Künstlerische Orte:
“Safari Deutschland”
“Wölfe”
Reusse tritt in der Werkgruppe “Safari-Deutschland” seiner Rolle als Künstler, der damit beschäftigt ist, das künstlerische Potential der Fotografie auszuloten, mit humorvollen Lachen gegenüber, wobei die Frage “Mache ich ein Foto, oder mache ich ein Bild?” trotz der legitimierenden Filterung über den malerischen Gestus, die Zusammenarbeit mit andern Künstlern und die performancehafte Präsenz des Künstlers im Werk weiterhin atemlos und unbeantwortet nebenher rennt. „Auf der Reise trifft der Autor auf tote Objekte/Tiere und vergißt sofort, daß er sie nicht selbst erlegt hat. Das Abenteuer Fotografie beginnt, als in einer Großwildjagd-Performance die verschwundenen Bilder wieder hervorgemalt werden. Die Suche nach dem Moment zwischen Ereignis und Inszenierung mündet ins Kino.“ (S. R.) Nach Reusse bauen die “Safari Deutschland“-Fotografien eine “filmische Realität” auf, während sie in dieser Identität fragwürdig werden, sobald sie sich “inwendig als wahr und als Arbeiten über reale Objekte erweisen.“ Sobald es um Bewegung geht, geht es um Leben/Lebendigkeit, was für Reusse auch heißt, die Sartre’sche Lebensform des Erzählens berührend, dass „Geschichten erzählt werden“, die man in Analogie zum Kino als „kinematographische Bilder“ zeigen kann. Für Susan Sontag ist „das Leben ein Kino, der Tod eine Fotografie.“
Reusse zeigt sich selbst als “glücklichen Jäger”, in schweren, handgenähten Lederstiefeln, weißer Kolonialkleidung und Tropenhelm, mit Sonnenschirm auf seiner Jagdtrophäe, einem Schwein (Safari Deutschland, “man/pig“, 1984, Foto auf Barytpapier, 125×165 cm) oder einer Kuh sitzend oder stehend, in Besitzgeste posierend, die Zeiss-Kamera um den Hals hängend, auch rauchend bereit, Fotos zu machen, seine Wichtigkeit genießend, während im Hintergrund ein von Bäumen und Gebüsch gesäumter, frisch gefurchter brauner Acker und über Land führende Strommasten das Bild einer beliebigen und belanglosen ländlichen Landschaft in Deutschland transportiert. Eine der Arbeiten, die aus dieser Inszenierung entstanden ist, präsentiert das Bild als körperhaft und haptisch wirkendes dreiteiliges Bild, das auf mit Fotoemulsion beschichtetem Leinen abgezogen ist. Ein weiteres Bild aus dieser Werkgruppe zeigt Reusse frontal dastehend, während er eine Maus mit spitzen Fingern als Beute vorträgt (Safari Deutschland, “man/mouse“, 1983, Foto auf Barytpapier, 160×125 cm). Carl Aigner schreibt: “So ist die Serie “Safari Deutschland” in diesem Sinne nicht nur eine ironisch-witzige und gesellschaftskritische Reflexion über das Subjekt als ein Anderes, sondern auch kommunikative Praxis im Spannungsfeld von (Selbst) Inszenierung und Betrachter.
( …) Vorausgesetzt ist hier ein Kanon von “deutschen Haustieren”, die als Urlaubsbeute inszeniert werden. Diese fotografischen Bilder sind also ikonographische Wirklichkeitssetzung und nicht Realitätsreferenz (wie die fotomaterielle Notation – als ob es sich um Bilder aus dem 19. Jahrhundert handelt – zeigt).”
Um diese Fotografien machen zu können, nahm Reusse Kontakt mit den Landwirten und Abdeckereien der Gegend auf, bis ihn die Leute schließlich informierten, wenn ein totes Tier auftauchte, mit dem er seine Bildidee verwirklichen konnte (bevor es zu Seife verarbeitet wurde). Reusse erinnert sich daran, dass er sie von der Wichtigkeit seiner künstlerischen Aktion überzeugen konnte und dann vorbehaltlos Unterstützung von ihnen bekam, zum Beispiel, indem sie die toten Tiere mit ihren Traktoren zu dem für die fotografische Inszenierung vorgesehenen Ort brachten.
Eine andere fotografische Arbeit, die als Triptychon hinter einer glänzenden Acrylglasoberfläche im Diasec-Verfahren angelegt ist, zeigt Reusse im Bewegungsablauf eines Schmetterlingsjägers, während er mit einem Schmetterlingsnetz, Harmlosigkeit und Leichtfüßigkeit suggerierend, durch das Gebüsch springt, um der Schnelligkeit und Zartheit der Schmetterlinge nachzukommen (Safari Deutschland, “man/butter-flies”, 1984, Foto auf Barytpapier/ Diasec, 160×37 cm).
Die Hervormalung der lebensgroßen Fotografie einer Steppengiraffe als “cinematographic photography” fand vor Publikum im Bühnenraum eines Kinos in Kassel auf einem 540×120 cm Papiergrund zu laut eingespielter Musik von Ennio Morricone zu dem Film “Once Upon a Time in the West” statt. Derartige Großformate verlangen nach einem entsprechenden Raum, sowohl für ihre Herstellung, als auch für ihre Präsentation. Die Musik lässt in Verbindung mit den Hervormalungen Filmbilder aus der Erinnerung und im Erleben des Betrachters entstehen, die ihn, vermittelt über eine Western-Safari-Überblendung, in eine Abenteuerdynamik mit Kinoqualitäten ziehen. Roland Barthes schreibt: “Das Prinzip des Abenteuers erlaubt es mir, die PHOTOGRAPHIE existent zu machen. Umgekehrt gilt: ohne Abenteuer kein Photo.”
Auf der Suche nach vergleichbar großen Bildern einer Steppengiraffe muss sich der Betrachter nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich auf eine Reise begeben, bei der er auf die Zeugnisse alter Kulturräume aus der Zeit von ca. 5000 bis 3000 vor Christus treffen wird: Im Niger, nahe Agadez finden sich in der Gegend von Dabous etwa 6 m große, möglicherweise aus der Tuareg-Kultur kommende Ritzzeichnungen auf Felsflächen, die lebensgroße Steppengiraffen zeigen. Andere Beispiele für Tierdarstellungen aus diesem Zeitraum sind Elefanten, Gazellen, Zebras, Krokodile. Menschliche Figuren werden als Jäger und Sammler dargestellt. Die Darstellungen beeindrucken durch “Naturalismus, Perspektive und Detailtreue“. Nicht das Thema oder das Format unterscheiden Reusse von einem unbekannten Künstler, der vor 5000-7000 Jahren gelebt hat, sondern das fotografische Medium und die in ihm angelegten Inhalte, menschlichen Verhaltensweisen und der Umgang mit Bildern.
Reusse schreibt über seinen humorvollen und kritischen Denkansatz zu diesen Arbeiten: “Glückliche Jäger, Safari Deutschland” stehen in Referenz zur Kolonialhaltung. Die meist lebensgroße Darstellung entspricht der Haltung der Zeit. Die Pose der Überheblichkeit des Siegers ist notwendige und ausschließlich gemeinte Selbstdarstellung. Das sichtbare Objekt und der Anlaß zur Pose erst, läßt das ‘aufgeklärte’ Lachen darüber gefrieren: macht nachdenklich und wird – hoffentlich – zum Auslöser der beabsichtigten Assoziationsketten, die bei der Selbstbefragung des Betrachters und seines Standortes in unserer Zeit endet; der Frage, wie weit wir heute wirklich von einer solchen – nur scheinbar vergangenen – Haltung entfernt sind.” Egidio Alvaro schrieb 1988: “The following series becomes even more accurate and fascinating. He mixes there irony with cruelty. The “Safari Deutschland” trophies are quite strange; dead animals stretched out in german landscapes, elephants captured in the zoos, a mexican iguana… a terrifying vision of an universe between corruption, apathy and ineffiency of the beautiful and on the other hand a wild nature in difficulties to survive…” Alvaro, der in den 1980er Jahren die Galerie “Diagonal” in Porto und Paris – “une galerie portugaise à Paris” – führte, hatte verschiedene Performance-Künstler unter Vertrag wie Manuel Barbosa, Gerardo Burmester, Natascha Fiala, Marie Kawazu, Eilsabeth Morcellet, Stephan Reusse und andere. Sie folgten auf die Pionier-Zeit des Performancegeschehens in den 1970er Jahren mit Künstlern wie Jürgen Klauke, Joseph Beuys, Urs Lüthi, Maria Abramovic, Ulrike Rosenbach. In seinem résumierenden Aufsatz aus dem Jahr 1998 schreibt Alvaro: „Stephan Reusse, allemand, étalait sur le mur un énorme papier photo, blanc. Puis au rythme de la musique „Il était une fois dans l‘ouest, il trempait des brosses dans des bacs remplis d‘un liquide spécial et commencait à peindre le papier. L‘image apparaissait progressivement. A Diagonale c‘était un éléphant dans un Zoo. A Porto, un gigantesque girafe.“
Auch die Konfrontation mit toten Tieren sieht Reusse in Bezug auf die Überwindung von Ekel, Ablehnung, Vorurteilen und anderen Widerständen, die in einem selbsterzieherisch wirkenden Prozess durchbrochen werden. Der nicht nur ausschließlich zynisch angefrästen, sondern auch humorvoll in einem Lachen daherkommenden Perspektive auf die Themen und Gesten der Trophäen-Fotografie, die Reusse eingehend recherchiert hat, steht die verzweifelte Seite der Performance gegenüber. In der Performance spricht der Körper und/oder die Handlung des Künstlers existentielle und immaterielle Dinge aus. Das Spannungsverhältnis zwischen Publikum und Künstler ist vielschichtig angelegt: Es reicht von der Ablehnung des Publikums bis zum Abhängigsein von seinen Reaktionen, bald bleibt das Geschehen in der Hand des Künstlers, bald scheint es sich gefährdend gegen ihn selbst zu richten, bis hin zum Tod. Vito Acconci schrieb 1992 auf die 1970er Jahre zurückblickend: “Die Performance (unabhängig davon, wie gleißend hell ihre Situation war) mußte selbst tief und dunkel sein: Die Performance wirkte wie eine dunkle, gestörte Nacht am hellichten Tag.” Paul Thek sprach schon 1966 im Zusammenhang mit seinen “Meat-Pieces” in Wachs von einer “Reinigung der Antennen“, um die kulturell bedingte Unschärfe der Wahrnehmung zu durchkreuzen und den sensorischen Fähigkeiten des Menschen einen anderen Weg zu öffnen.
Reusse befasst sich immer wieder mit der Darstellung von Tieren, um in ihrer Beobachtung einen anderen Wahrnehmungsraum sichtbar machen zu können. In seiner Werkgruppe “Wolves” (2001-2002), für die er Wölfe in einheimischen Tiergehegen, in Kanada und in der mongolischen Steppe beoachtet hat, lässt er seinen zynischen Blick hinter sich und nähert sich an der Grenze zur Selbstgefährdung einem fremden Wesen, dem Wolf an, um die negativ besetzten Bilder/Feindbilder, die sich die Menschen von diesem Tier gemacht haben, zu durchdringen und ein anderes Bild zu finden.
Reusse kennt das Verlangen nach einem “genauen Bild”, das Roland Barthes beschreibt: “Doch mein Kummer verlangte nach einem genauen Bild, das zugleich Gerechtigkeit und Genauigkeit sein sollte; ein Bild nur, doch ein richtiges Bild.” Reusse bestätigt den Gedanken des “genauen Bildes” in seiner sinnlichen Unerreichbarkeit und teilt dies in der Fremdheit des Dargestellten mit, als sähe er alles immer zu ersten Mal. Die Heterogenität seiner Bilder und Werkgruppen verhindert, dass der Betrachter sich allzu heimisch in seiner Arbeit fühlen könnte. Seine Infrarotaufnahmen von Wölfen spielen eine Schlüsselrolle in der bildlichen Verdichtung einer selbstgewählten Fremdheit. Reusses Bilder ziehen aus der Fremdheit und Gefährlichkeit der Tiere nicht das Negative, sondern betrachten sie mit einem forschenden und einem fragenden Auge als Lebewesen, die irgendwo da draußen leben. Die Wölfe erscheinen, auf andere Art als die “Sumpfblüten/Pissflowers”, zart und verletzbar, nicht reißend. Siegfried Zielinski sieht diesen Moment der Umwertung in der “zärtlichen Zuwendung”, die der Wolf “im gedehnten künstlerischen Augenblick” für die menschliche Wahrnehmung erfährt: “Der Wolf wurde von den Alten als ein “fressender Schatten” aufgefasst. Die Spur, die er für die Bauern hinterließ, war in ihren Augen blutig, seine Anwesenheit bedeutete Gefahr und Bedrohung. Er war ein gehasstes Tier, das aus der Kälte kam und in die Kälte zurückwich. Der Wolf repräsentierte das Fremde, das Andere, das Auszugrenzende, das zu Vernichtende. Reusses Bilder verleihen ihm etwas, was er in Wirklichkeit nie hatte. Im gedehnten künstlerischen Augenblick genießt er zärtliche Zuwendung. Erst wenn das Objekt im Realen nahezu eliminiert ist, vermag es für die Leute Faszination zu entfalten, Achtung und Wärme zu erheischen: im Status des Bildes.”
Mark Rowland, der über elf Jahre mit einem Wolf zusammengelebt hat, geht noch weiter, wenn er den Wolf als “Lichtung der menschlichen Seele” bezeichnet: “Wir stehen im Schatten des Wolfes. Ein Objekt kann auf zweifache Weise einen Schatten werfen: dadurch dass es das Licht absorbiert, oder dadurch, dass es die Quelle des Lichtes ist, das andere Dinge absorbieren. ( …) Mit dem Schatten des Wolfes meine ich also nicht den, welchen der Wolf selbst wirft, sondern den Schatten, den wir im Licht des Wolfes werfen. Und aus diesem Schatten schaut uns genau das an, was wir nicht über uns selbst wissen wollen.” Rowland hat den Wolf auch als “älteren Bruder” erfahren, von dem er einiges gelernt hat: “Ich bin überzeugt, dass der Mensch zu dem ich dadurch wurde, besser ist als derjenige, der ich sonst gewesen wäre.”
Reusses Wolfsbilder sind insofern “genaue Bilder”, als sie dem Wolf in einem fremden Blick eine von Vorurteilen befreite Existenz gewähren. Diejenigen Bilder, die in Abwesenheit des Künstlers von einer laufenden Kamera aufgezeichnet worden sind, zeigen den Wolf als blickendes Tier, das mit leuchtenden Augen aus der Nacht in die Welt des Betrachters sieht. Die Abwesenheit des Künstlers erscheint als Konsequenz der Anerkennung der Fremdheit des Tieres, wobei der Blick des Wolfes nicht dem Künstler, sondern dem Auge der Kamera zu antworten und die Fremdheit damit perfekt zu sein scheint. Ob es sich dabei um eine Berührung mit der absoluten Subjektivität der Fotografie im Barthes’schen Sinn handelt, oder ob sich die Wolfsbilder gerade dieser Subjektivität entziehen wollen, bleibt offen.
Reusse entschied sich, nach dem (gemeinsamen) Künstler-Portrait seinen künstlerischen Dialog mit Beuys in der Begegnung mit Wölfen erneut anzugehen. Beuys ließ sich 1977 im Rahmen seiner Aktion “I like America and America likes me” völlig verpackt, ohne Kontakt mit der New Yorker Umwelt, vom Flughafen in die Stadt bringen. Er hatte beschlossen, keine Menschen in New York zu treffen, sondern nur einem Tier zu begegnen. Er verbrachte vier Tage mit einem Koyoten in einem als Gehege vorbereiteten Raum (Galerie René Block), zeigte ihm die Tageszeitung, fütterte ihn, schlief bei ihm, ließ, geschützt durch eine Filzdecke und einen Stab, seine Annäherungen zu. Danach ließ er sich wieder völlig verpackt zum Flughafen bringen. Sich inhaltlich im Reich der Schatten bewegend, um einen “fressenden Schatten“ zu beobachten, vernetzte Reusse seine “apparativen Realitäten” (S. R.) im Denken eines Künstlers, für den der Wärmecharakter im Denken eine der entscheidenden Fragen war, um dabei auch den Parametern seiner eigenen künstlerischen Arbeit zu begegnen. Für Beuys kam es auf den “Wärmecharakter im Denken” an, eine existentielle Relation im Denken, die zum Beispiel bei der Befragung der eigenen Projektionen/Vorurteile ansetzen kann, die sich besonders leicht einstellen können, wenn das Gegenüber eine andere Sprache spricht oder in gewisser Weise stumm erscheint.
Begegnungen – Zusammenarbeit – Inszenierungen
Künstlerischer Ort:
Künstler-Portraits
Teppich/Aborigine Nanjua
Eingewoben in den künstlerischen Prozess, ist für Reusse die Frage nach der künstlerischen Haltung, die in einem Kunstwerk mitgeteilt wird, notwendig, damit sich künstlerische Arbeiten nicht in ständigen Wiederholungen verlieren/verbrauchen, ganz gleich auf welchem formalkünstlerischen oder stilistischen Niveau sie sich bewegen, sondern sich in Veränderungen/Wandlungen vollziehen. Die Hinterfragung des künstlerischen Egoismus, wie sie zum Beispiel Paul Thek in den 1970er Jahren in seiner Zusammenarbeit mit den Künstlern seiner Künstlergruppe “Artist’s Co-op” umsetzen wollte, etwa, indem er seine Arbeiten nicht signierte, dabei aber auch von den Mitgliedern seiner Künstlergruppe erwartete, dass sie ihre künstlerischen Anteile/Beiträge nicht signierten, begleitet auch die Begegnungen, die Reusse mit anderen Künstlern und Künstlerinnen erfahren hat und die in den Künstler-Portraits eine bildliche Form gefunden haben. Außer Joseph Beuys, dessen Persönlichkeit und künstlerische Arbeit ihn stark beeinflusst haben, hat Reusse Künstler und Künstlerinnen wie John Baldessari, Daniel Buren, Michael Buthe, Walter Dahn, Jimmie Durham, Allan Karprow, Jürgen Klauke, Shigeko Kubota und Nam June Paik, Mike Kelley, Tony Oursler, Jeff Koons, Bernhard Martin, Nancy Spero, Anna Oppermann, Heribert Ottersbach, Pedro Cabrita Reiss, Wolf Vostell, Peter Weibel, Lawrence Weiner, Herrmann Nitsch, Rosemarie Trockel und Paul Thek und – über die Jahre – viele andere Künstlerinnen und Künstler getroffen. Die offene und kommunikative, von Gedanken der Zusammenarbeit, des künstlerischen Austausches, gemeinsamen Ausstellens und Weiterempfehlens geprägte Atmosphäre der Kunstszene in den späten 1960er und 1970er Jahren eröffnete neue/andere, sich im Feld der künstlerischen Haltungen entfaltende Denk- und Handlungsweisen. Sie war nicht in erster Linie von Besitzdenken und dem Herausstellen der eigenen künstlerischen Leistung geleitet, bis es Mitte der 1980er Jahre zu einer erneuten Atomisierung der künstlerischen Welten und Karrieren kam. In den 1990er Jahren haben sich Künstler an die Offenheit der Kunstszene in den 1960er und 1970er Jahre erinnert und sind das Feld der künstlerischen Zusammenarbeit erneut angegangen wie zum Beispiel Rosemarie Trockel und Carsten Höller mit der Arbeit “Haus für Schweine und Menschen” (1997), nicht zuletzt auch durch Künstler wie Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat, die in den 1980er Jahren gemeinsam an Bildern arbeiteten. Als Reusse mit einem Portrait von Harry Kramer 1982 seine Werkgruppe der Künstler-Portraits begann, wollte er seine künstlerische Stimme in der Fotografie finden: “Nicht der Fotograf, sondern der Künstler kommentiert, aus einer gemeinsamen künstlerischen Erfahrung.” (S. R.) Die Künstler-Portraits sind zunächst “im Nebenbei” (S. R.) zu seinen anderen künstlerischen Arbeiten entstanden. Zuerst wollte er Spuren folgen und dachte daran, von Künstler zu Künstler weitergereicht zu werden, doch die Spur endete bei Karl Heinz Stockhausen. Danach suchte er sich die Künstler aktiv aus, wobei “die Bereitschaft einer Person, eine künstlerische Arbeit nicht als Produkt für den Markt zu machen” (S. R.), ausschlaggebend war. Wenn Reusse neuerdings die “bewegten Bilder” seiner Laser-Arbeiten findet, gehen ihm die vielfältigen Erfahrungen im Feld menschlicher Begegnungen und des Austausches von künstlerischen Ideen/Denkweisen nach, die es ihm ermöglichen, eine vom künstlerischen Ego distanzierte künstlerische Haltung einzunehmen. Als prozessual und experimentell arbeitender/denkender Künstler kann er sich nicht im Schutz/ Schatten seiner Arbeiten aufhalten, sondern muss als notwendig anerkennen, dass die Offenheit seiner Arbeit mit der Entfaltung seiner Persönlichkeit und seinen Haltungen zusammenhängt. Dementsprechend portraitierte er Künstlerkollegen, die ihn in Fragen des künstlerischen Arbeitsprozesses oder von Haltungen unmittelbar beschäftigten, weil sie im Bereich von Aktionen und Performances ihre Formen und Inhalte entwickelten. Dazu gehören Künstler wie Allan Kaprow mit seiner Happening-Erfahrung, Wolf Vostell und Nam June Paik als Fluxus-Künstler, Jürgen Klauke als Performance-Macher und Herrmann Nitsch und Peter Weibel aus dem Experimentierfeld des Wiener Aktionismus.
Unter Reusses Künstler-Portraits aus den Jahren 1982-1989 (Collaborations I) befinden sich sowohl Ideenskizzen zu möglichen Portraits in Form von Polaroids, als auch Schwarz/Weiß-Fotografien, die das skulpturale Potential der körperlichen Erscheinung abtasten und die Gesichter der Personen frontal abbilden, während sie offen in die Kamera sehen. Manchmal sucht Reusse in langen ausführlichen Planungen nach Gelegenheiten einer Begegnung, dann wieder entwickeln sich spontan Situationen, in denen Bilder entstehen. Viele der Künstler-Portraits waren mit einer künstlerischen Zusammenarbeit verbunden, indem die Portraitierten ihr eigenes Bild hervorarbeiteten und dabei den Grad seiner Wiedererkennbarkeit bestimmten (zum Beispiel Leon Golub, Nancy Spero, Jürgen Klauke, Daniel Spoerri, Rune Mields, Anna Oppermann, Fritz Schwegler, Dorothea von Windheim, Bernhard Johannes Blume, Herrmann Nitsch, Joseph Kosuth) oder wie John Baldessari (1987, Foto auf Barytpapier, 180×245 cm) mit der Zerteilung seines Portraits und der Besetzung mit gelben Punkten künstlerische Eingriffe/Hinzufügungen machten: “Diese Form der Kommunikation sucht ihre Verbindlichkeit in einem funktional-prozessualen Kollaborieren und nicht in einem prototypischen Einzelwerk.” (S. R.)
Bei Happening- oder Fluxuskünstlern wie Allan Kaprow oder Wolf Vostell wurde das Foto als “Vorlage für eine Aktion” (S. R.) genommen. Reusse schreibt: “Bei Wolf Vostell (Fluxus) wurde ein vorbelichtetes Großfoto (Fotoleinen) in einem abgedunkelten Raum auf den Boden gespannt. Dieses wurde von den darüberfahrenden Reifen seines Cadillacs entwickelt, die zuvor mit Entwicklerflüssigkeit getränkt worden waren. Dort wo die Reifen ihre Spuren hinterließen, kam das Abbild Vostells zum Vorschein. Bei Allan Kaprow wurde das fertig entwickelte Foto (Fotoleinen) als Tischtuch für ein Essen genutzt, bei dem sich beide Partner mit 60 cm langen Eßstäbchen fütterten.”
In den Jahren von 1989 bis 2001 veränderte Reusse seine Vorgehensweise beim Portraitieren: “Die Arbeiten von ‘Collaborations II’ sind die Fortsetzung von ”Collaborations I“. Nachdem der performative Kommunikationsmodus Anfang der 1990er Jahre in einen Erschöpfungszustand verfiel, fing mit “Collaboration II” eine Art von typologischen Inszenierungen an, bei denen die jeweiligen künstlerischen Haltungen direkt aufgegriffen werden.” Die “Collaborations II“-Bilder hat Reusse mit einer Mittelformat- und einer Plattenkamera aufgenommen. Manche Künstler, die Reusse schon im Rahmen der “Collaborations I” portraitiert hatte, sind dann auch in dem inszenierten Modus ins Bild gesetzt worden (zum Beispiel Rune Mields, Jürgen Klauke). Auch in dieser Gruppe von Künstler-Portraits stehen sich klar abgesprochene, distanzierte künstlerische Inszenierungen und Situationen gegenüber, in denen Reusse die portraitierten Künstler in existentiellen Nöten antraf. Rosemarie Trockel schlug für ihr Künstler-Portrait eine Verwechslungssituation vor, in der eine zweite weibliche Person auf der Picknickdecke Platz nehmen sollte, um den Betrachter mit der Frage zu befassen, wer von beiden die Künstlerin ist (Rosemarie Trockel, 1996, C-Print, 145×198 cm). Als Reusse Paul Thek 1987 in seinem Atelier in Brooklyn/New York traf, sprach er über seine finanziellen und gesundheitlichen Probleme, die Widerstände, die sich ihm entgegenstellten, als er seine künstlerischen Arbeiten und Elemente von Ausstellungen anfragte, die schon seit den 1970er Jahren an verschiedenen Orten in Europa eingelagert waren. Er befand sich in einer verzweifelten, verlassenen Lage. Artauds Schrift über Vincent van Gogh, den er als “Selbstmörder durch die Gesellschaft” beschreibt, stellt eine extrem-existentiell angelegte Denkmöglichkeit in den Raum, die auch die Situation von Künstlern wie Paul Thek in einem anderen Licht erscheinen lassen. Artaud schreibt über van Gogh: “So hat niemand seit van Gogh verstanden, wie man die große Zimbel rührt, das übermenschliche Timbre, fortwährend übermenschlich gemäß der verdrängten Ordnung, nach welcher die Gegenstände des wirklichen Lebens klingen, wenn man das Ohr weit genug zu öffnen vermag, um das Branden ihrer Springflut zu verstehen. Derart klingt das Licht des Kerzenleuchters, dass das Licht des brennenden Kerzenleuchters auf dem grünen Strohsessel wie die Atmung eines liebenden Körpers vor dem Körper eines schlafenden Kranken klingt.” Oder: “Eines Tages existierte die Seele nicht, noch der Geist, und was das Bewusstsein angeht, so hatte noch nie jemand daran gedacht, aber wo war übrigens das Denken in einer Welt, die einzig aus sich bekriegenden Elementen bestand, welche ebenso rasch zerstört wie neu zusammengesetzt wurden, denn das Denken ist ein Luxus des Friedens.” Oder: “Und deshalb ist van Gogh durch Selbstmord gestorben, weil das einmütige Zusammenwirken des Bewusstseins ihn nicht mehr ertragen konnte.” Und: ”Eines Tages wird van Goghs Malerei, bewaffnet mit Fieber und guter Gesundheit, zurückkehren, um den Staub einer Welt im Käfig in die Luft zu schleudern, die sein Herz nicht mehr ertragen konnte.” Reusse inszenierte Thek als Wanderer, der sich auf dem Weg befindet.
Die Zusammenarbeit mit dem viele weitere, verborgene Namen tragenden Aborigine Nanjua aus Zentralaustralien, lässt sich nicht im Feld der Künstler-Portraits verorten. Sie berührt die Wahrnehmungs- und Denkweisen einer anderen Kultur, die Bilder “nicht als Kunst oder symbolisch betrachtet, sondern als Kommunikation, geographische Verortung und als Wegweiser für Träume sieht und benutzt“ (S. R.). Paul Thek, der sich für die Beziehung zwischen dem Unbewussten, dem künstlerischen Prozess und kulturellen Erfahrungen interessierte, betrachtete die Kultur der Aborigines als Verdichtung seiner Beschäftigung mit der transpersonalen Psychologie Carl Gustav Jungs und seines daran anknüpfenden “Art is Liturgy”-Denkens: “The Australian Aborigine devotes his ENTIRE life to his liturgy. The Liturgy is what you do for God.” Michael Buthe befasste sich in seinem Beitrag “Europa in Luce” zur Biennale in Sydney 1988 mit den kolonialistischen Verletzungen der Kultur der Aborigines. Im Sinne einer “Entkleidung von Kultur“ macht sein künstlerischer Blick auf die Geschichte des Kolonialismus und der damit einhergehenden kulturellen Unterdrückung und Enteignung des Lebensraumes wie ihn die Aborigines erfahren mussten, aufmerksam. Europa erscheint in einem Licht, in dem es nicht umhin kommt, die dunklen Seiten/Schatten seines kulturellen Anspruchsdenkens wahrzunehmen.
Nach ihrer Zusammenarbeit verabredeten Reusse und Nanjua, sich zu bestimmten Zeiten Träume zu senden, was in Ansätzen wohl auch stattfand. Reusse, der den Roman “Traumpfade/Songlines” von Bruce Chatwin über die gedachten Wege und labyrinthischen Linien der Ahnen, die sich über den australischen Kontinent ziehen, intensiv gelesen hatte, wartete längere Zeit auf die Begegnung mit Nanjua, bis er ihn schließlich durch Vermittlung traf. In der etwa zehn Tage dauernden Kommunikation zwischen Reusse und Nanjua entstand ein gemeinsames Bild, das Reusse kurze Zeit danach als Teppich arbeiten ließ. In seiner Zusammenarbeit mit Nanjua verdichtete sich für Reusse nochmals die Spur unbewusster seelischer Prozesse, die er mit seinen “Pissflowers/Sumpfblüten” bereits berührte. Er begab sich in ein zwischenmensch-liches Erlebnis hinein, in dem er sich aus seiner eigenen kulturellen Herkunft fortbewegte, um in der spirituellen Welt des Aborigine das Fremde/das Andere in gewisser Weise auch zu erfahren.
Fotografie – Tod – Gehirn – Geruch – Bewegung
Künstlerischer Ort:
Ausstellung “Lemonroom” (1994)
1994 verlieh Stephan Reusse dem Wintergarten des Kunstvereines Speyer für die Dauer der Ausstellung eine eigene Atmosphäre, indem er in den zugestellten Lagerräumen die Farbe von den Fußbodenkacheln entfernte und die mit Rollläden verschlossenen und mit Stellwänden verbauten Fenster öffnete, so dass den Ausstellungsbesucher ein vom wechselnden Tageslicht erleuchteter Raum mit Blick auf den parkähnlichen Garten erwartete. Die anderen Ausstellungsräume waren künstlich beleuchtet. Bereits beim Betreten des Ausstellungsgebäudes sah er durch die Flucht der Räume eine im hinteren Raum platzierte Vitrine, die punktuell von oben mit einem Halogenlicht bestrahlt wurde. Auf dem Weg dorthin präsentierte Reusse eine Auswahl seiner Künstlerporträts (Robert Barry, Joseph Beuys, Leon Golub, Ilya Kabakov, Robert Longo, Hermann Nitsch und Lawrence Weiner) in Form von Schwarz/Weiß-Emaillen (1994, 10,5×7,5 cm) auf 15 cm breiten und 1,90 m hohen hellgrauen Streifen, die auf Augenhöhe eines durchschnittlich großen Menschen (etwa 1,75 m) angebracht waren. Zu den Emaille-Arbeiten wurde Reusse durch fotografische Portraits in Form von Porzellan- oder Emailleplaketten angeregt, die auf Grabsteinen zu finden sind. Ohne Umscheife bewegte er sich damit nicht nur in der Geschichte der Grabeskultur, sondern inmitten eines Denkens über Fotografie, das eine direkte Beziehung zwischen Form und Inhalt herstellt, indem es die Verknüpfung zwischen Fotografie und Tod formuliert. In ihrem Essay „Objekte der Melancholie“ schreibt Susan Sontag gegen die Interpretation von Kunstwerken an, dergegenüber sie sich für die Verschmelzung inhaltlicher mit formalen Erwägungen auch im Hinblick auf die Fotografie ausspricht. Sie fasst Fotografie als eine künstlerische Form auf, die die Vergänglichkeit des Menschen unmittelbar berührt: “Fotos zeigen Menschen so unwiderruflich gegenwärtig und zu einem Zeitpunkt ihres Lebens; sie stellen Personen und Dinge nebeneinander, die einen Augenblick später bereits wieder getrennt waren, sich verändert hatten und ihr eigenes Schicksal weiterleiten. ( …) und gerade die Verknüpfung von Fotografie und Tod verleiht allen Aufnahmen etwas Beklemmendes.“ Emailleporträts auf Grabsteinen erinnern an die verstorbene Person und zeigen zugleich die Unwiederbringlichkeit des Zeitpunktes in ihrem Leben, der durch die Fotografie festgehalten worden ist. Das menschliche Interesse an der Rekonstituierung des Lebendigen, das sich zum Beispiel auch in der Praxis zeigt, verstorbene Menschen durch Wachsfiguren zu repräsentieren, in der Absicht, der Absolutheit des Todes etwas entgegenzusetzen oder die (fortwirkende) Macht einer Person darzustellen, bleibt immer einer ambivalenten Wirkung ausgesetzt, denn die Mittel, die die Lebendigkeit rekonstituieren helfen, sind gleichzeitig beredte Aussagen über das, was sie ungeschehen zu machen versuchen. In diesem Feld gibt es keine Eindeutigkeit. Iris Därmann vergleicht die Porträtfotografie mit einer Guillotine: „Die Guillotine ist eine Porträtmaschine, die jene Gesichter erzeugt, welche Bildtechniken über die Zeit ihres Ausdrucks hinaus aufnehmen. 1839 wird die Fotografie diese doppelte Funktion übernehmen, guillotinieren und speichern in ein und demselben Augenblick.“ Die “Vertäuung” einer Porträtfotografie mit der Realität verliert sich im Laufe der Zeit, weil sie “nur ein Fragment” ist, das, sich aus der Zeit lösend, in eine “gedämpfte abstrakte Vergangenheit“ triftet. Eine der abstrakten Vergangenheiten, die womöglich wartet, ist die Kunstgeschichte.
Roland Barthes betrachtet die Fotografen als “Agenten des Todes”, die den Betrachter die Ebene des (gewöhnlichen) Todes betreten lassen, an dessen Grund sein eigener Tod eingeschrieben ist. Der Erkenntnisgehalt der Fotografie (Noema) besagt: “( …): das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt ( …) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden.” Und: “( …) (ein Gefühl, das ich vor einem Gemälde niemals empfände): es ist nichts anderes als die Melancholie der Fotografie.” Und: “In der PHOTOGRAPHIE zeigt sich die Stillegung der Zeit nur in einer maßlosen monströsen Weise: die Zeit stockt ( …).” Das Paradigma der Fotografie, das Gegensatzpaar DAS LEBEN/DER TOD “wird auf ein simples Auslösen beschränkt, jenes, das die Ausgangspose vom fertigen Abzug trennt.”
Roland Barthes und Jacques Derrida sind in der Frage des Todes und der Einschätzung der Fotografie eng miteinander verknüpft, seit Derrida seinen Text “Die Tode von Roland Barthes” (1981) geschrieben hat. Die Unabgeschlossenheit seiner Gedanken voranschickend, hat er sich entschlossen, als poststrukturalistischer Denker an und über den in das Verlies einer überholten Autonomie des Subjektes gestoßenen Barthes zu denken, in Anerkennung für die Durchdringung, Überschreitung und Ausbeutung der strukturalen Analyse in seiner Schrift “Die helle Kammer” (1980), eben der über die Fotografie. Derrida denkt/schreibt sich in das Gegensatzpaar punctum/studium hinein, das für Barthes Analyse der Wirkung einer Fotografie den entscheidenden Punkt darstellt: Das punctum der Fotografie ist nicht codiert, während das studium codiert ist. Das punctum ist die “empfindliche Stelle” einer Fotografie, die den Betrachter “sticht, verwundet, trifft”, die Stelle, die sich ihm gleichzeitig widersetzt, wenn er mit Bewertungen an das Bild herangeht, um es in die Codierung zurückzuwerfen. In dem punctum steckt ein “leidenschaftlicher Widerstand gegen jegliches reduzierende System.”
Jean Baudrillard hält es für möglich, dass der Punkt des Verschwindens des Menschen in der von ihm digitalisierten Welt nicht nur analytisch zu beklagen ist, sondern als Spiel, als Kunst des Verschwindens zu betrachten ist: “Das kann der Wunsch sein, zu sehen, wie die Welt in unserer Abwesenheit aussieht (Photographie), oder der Wunsch, über das Ende, über das Subjekt, über alle Bedeutung, über den Horizont des Verschwindens hinauszublicken, wenn es denn noch ein Sichereignen der Welt, ein nichtprogrammiertes Erscheinen der Dinge gibt.”
In dem von Zitronengeruch durchzogenen, “Lemonhouse” betitelten Ausstellungsraum, zeigte Reusse rechts neben der Tür, vor dem Hintergrund eines hellgelben, auf die Wand gemalten Feldes, etwa in Bauchhöhe auf einer schmalen Leiste stehend, (100×60 cm) eine kleinformatige Diasec-Version seiner dreiteiligen Fotoarbeit “man/butterflies” (24×18 cm) aus der Werkgruppe “Safari Deutschland”. Es handelte sich um zart erscheinende Abzüge in hellen gelb-braunen Tönen, die wie Aquarelle wirken. In der Mitte der die Ausstellung zentrierenden Vitrine (30x33x40 cm) lag ein kleinformatiges Papier, auf dem eine mit Tusche hergestellte Rorschachfigur zu sehen war. Über der Zeichnung hing ein fleischfarbenes Demonstrationsgehirn aus Latex, das mit einem Faden an der Decke des Ausstellungsraumes, der durch ein Loch (Durchmesser ca. 2 cm) in die Vitrine lief, befestigt war. Reusse wählte den Punkt der Befestigung des Fadens an der Unterseite des Gehirns im Bereich des Hirnstammes, so dass es an einen beim Metzger abhängender Tierkörper/Vogelkörper erinnerte. Die Rorschachfigur transformierte er zu zwei großen symmetrisch in Holz (Multiplex) geschnittenen Figuren (ca. 150×70 cm), die liegend auf unterschiedlich großen und verschiedenfarbigen, unsauber geschnittenen und grob umsäumten Filzdecken präsentiert wurden. Auf den unteren dunkelgrünen Decken (180×140 cm) lagen kleinere Decken, eine rosafarbene und eine hellgrüne Decke (160×120 cm). Die Rorschach-Objekte, die die Aufnahme der Beziehung zum Unbewussten katalysieren, wurden im übertragenen Sinn vor unvorhergesehenen Erschütterungen, die den eingeleiteten Prozess stören oder vorzeitig abbrechen können, geschützt. Reusse erinnert sich, dass er beim Betrachten dieser Arbeit an Teichblumen dachte.
Organisch gesehen ist das Gehirn derjenige Teil des Körpers, der anzeigt, ob der Tod eines Menschen vollständig eingetreten ist (Hirntod). Das Gehirn führt ein gewisses, unabhängiges Eigenleben. Das Gehirn leistet Steuerungs- und Umwandlungsarbeit. Es abstrahiert und verknüpft Erfahrungen, betreibt einen dauernden Prozess der Ideation. Dabei handelt es sich um einen beweglichen, auf Selbstregulation beruhenden Prozess, denn der durchlaufende Erfahrungsstrom verändert den Charakter des Gehirns. Reusse, der mit der kleinen Rorschach-Zeichnung den Zufall thematisiert hat, geht es darum, einen Punkt zu finden, an dem bestehende Denkmuster verändert werden. Gregory Bateson versteht Denken als evolutive Bewegung. Wenn ein Lernprozess alle seine Differenzierungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, kann nur eine Entleerung weiterführen, die im Prozess des Werdens und Vergehens der Natur angelegt ist: “Lernen führt zu dem überladenen Geist. Durch die Rückkehr zu dem Ei, das noch nicht gelernt hat ( …) leert die fortdauernde Spezies immer wieder ihre Datenbanken, um auf das Neue vorbereitet zu sein.” „Die letzte unbefleckte weiße Seite des Buches zu erreichen“ wäre der Wunsch nach Entleerung eines mit Wissen überfüllten Gehirns. Das über der Rorschach-Zeichnung in Pendelbereitschaft abhängende Gehirn macht, herausgelöst aus seiner steuernden Rolle, auf humorvolle Art die Distanzierung von sich selbst anschaulich. Dabei kann es auch als Hommage an die kinetischen Objekte seines Lehrers Harry Kramer betrachtet werden. Das Ganze fand in einer wohlriechend nach Limonen riechenden Sphäre statt, um das Erinnerungsvermögen des Ausstellungsbesuchers zu aktivieren.
Einerseits kann der “Lemonroom” als komplexes Bild für Reusses Wunsch nach “geistigem Durchatmen” betrachtet werden; andererseits macht er auf die Grenzen der Erfahrbarkeit und des Erlebnisses aufmerksam, die in einem auf Offenheit und Kommunikation hin angelegten künstlerischen System überschritten werden. Etwa im Sinne Jean Baudrillards in der “Weite des Blicks“, die sich in der Wüste einstellen und “sich an nichts brechen kann”, eine Weitung, die auch auf die Wahrnehmung von künstlerischen Zusammenhängen zurückwirkt. Baudrillard schreibt über das in der kalifornischen Mojave-Wüste gelegene Death Valley: “Das ist das Bruchstück von einem anderen Planeten (auf jeden Fall bevor der Mensch da war), Träger einer anderen tieferen Zeitlichkeit, auf deren Oberfläche man wie auf schwerem Wasser dahintreibt. ( …) Hier ist der einzige Ort, an dem man alles wieder auferstehen lassen kann, das physische Farbenspektrum ebenso wie das Spektrum der unmenschlichen Metamorphosen, die uns wie unsere schrittweise Entstehung vorangegangen sind.” Die “geistige Leere”, die sich während des Aufenthaltes in einer Wüste einzustellen vermag, geht nicht nur in das sehende Auge hinein, sondern findet im ganzen Körper statt. “Die Wüste ist eine natürliche Verlängerung der inneren Körperstille. Wenn die Sprache, die Technik und die Bauwerke des Menschen eine Verlängerung seiner konstruktiven Möglichkeiten sind, ist die Wüste eine Fortsetzung seiner Fähigkeit zur Abwesenheit; sie ist das ideale Schema seiner verschwundenen Form. ( …) Nach der Wüste zieht sich das Auge von allem zurück, um die vollkommene geistige Leere wieder herzustellen; es muß die Wüste zwischen den Zeilen aller belebten Zonen und aller Landschaften entdecken. ( …) Und doch ist die Wüste nicht ein Raum, den man aller Substanz entleert hat, ebenso wie die Stille nicht etwas ist, der man alle Geräusche entzogen hat. Man braucht nicht die Augen zu schließen, um sie hören zu können.” Die Fähigkeit zur Abwesenheit, die Baudrillards Wüstentext beschreibt, kann nicht nur die Wahrnehmung der Stille katalysieren, die sich in der Fotografie aufhält, sondern das punctum zur Sprache bringen, das Reusses gesamte künstlerische Arbeit, besonders verdichtet in den Thermografien, durchzieht: “Die Stille der Zeit” als Vernetzung mit der Erfahrung der Wüste, die den Betrachter auf eine Reise in die Wüste schickt. Wenn er die Wüste wieder verlässt, wird er auch die Unschärfe der Thermografien anders sehen, denn “das Auge bleibt nicht mehr auf den nahen Dingen ruhen. Es kann die Gegenstände nicht mehr genau in den Blick nehmen, alle menschlichen und natürlichen Erhebungen, die sich ihm in den Blick schieben, erscheinen als lästige Hindernisse, die die totale Ausbreitung des Blicks stören.”
Abwesenheit – Abstraktion – Mark Rothko
Künstlerischer Ort:
Thermografische Bilder
Reusse verknüpft in seiner ständigen, mit wissenschaftlicher Ausdauer betriebenen Beschäftigung mit anderen Wahrnehmungen, das Hineinfragen in den fotografischen Prozess mit inhaltlichen Qualitäten. Neben den Hervormalungen, chemikalischen Varianten beim Entwickeln der Bilder (Urin/Harn) oder ihrem Einbrennen in Keramikplatten, beschäftigt ihn seit 1982 auch der Moment und das Umfeld des Aufnehmens von Bildern. Der Bereich der Sichtbarmachung von für das menschliche Auge nicht sichtbaren Wärmeschatten ist mit thermografischen Aufnahmegeräten möglich, die auch in der medizinischen Forschung und beim Militär eingesetzt werden. Die Fotografie, die ohnehin das Vergangene/den Tod, das anwesend Abwesende als Paradox in sich trägt, wird in einer Überblendung von Form und Inhalt mit ihrem Thema konfrontiert. Klaus Honnef schreibt dazu: “Stephan Reusse spitzt dieses “Noema” (Roland Barthes) der Fotografie zu, indem er mit fotografischen Mitteln Gegebenheiten wiedergibt, die mit fotografischen Mitteln allein gar nicht darstellbar sind. Die fotografische Aufnahme eines leeren Bettes vergegenwärtigt nichts als ein leeres Bett und lediglich die zerknüllten Laken liefern Indizien, dass sich einige Zeit zuvor jemand darin aufgehalten hat, ohne die zeitliche Spanne näher eingrenzen zu können, sofern die Szenerie nicht ohnehin eigens für eine fotografische Aufnahme inszeniert wurde. In den Thermografien des Künstlers werden hingegen Umrisse des Körpers sichtbar, der sich einmal in dem Bett befunden hatte, und je rascher die Aufnahme erfolgt, nachdem er das Bett verlassen hat, desto prägnanter sind seine Spuren.” Es bleibt ein Wärmeschatten zurück. Jenseits des Barthes’schen Ideales eines “genauen Bildes” sind Reusses thermografische Bilder von einer Undeutlichkeit/Schemenhaftigkeit durchzogen, die die Unabänderlichkeit des Verschwindens, selbst wenn sie in einer tieferen Schicht beleuchtet wird, wiederum bestätigen, während sie dem Betrachter einen zwiespältig daherkommenden Einblick in einen kurzen Zeitraum ermöglichen, wo sich seine Endgültigkeit zu verzögern scheint. Ebenso schnell wie der Betrachter in seinem Erleben in die Weite der “drei Minuten nach dem Verlassen” eingetreten ist, fällt er aus der Vorstellung, es gäbe doch einen Aufschub, wieder heraus. Allein die malerischen Anmutungen der in Schwarz/Weiß-Bilder transformierten Wärmefotografien weisen einen anderen Weg, denn sie gehen an Punkte zurück, wo schon historische Fotografen um die Anerkennung der Fotografie als Form der Kunst gekämpft haben, wie zum Beispiel Alfred Stieglitz, der jenseits piktoralistischer Manipulation an einer authentischen Bildsprache arbeitete. Das malerische Potential der Thermografien Reusses beruht nicht auf einer nachträglichen Manipulation der Aufnahme, sondern liegt in der Zeitlichkeit begründet, die im Feld des Nichtsichtbaren ihre dann sichtbar gemachten, undeutlichen Spuren hinterlässt/hinterlassen hat. Carl Aigner sieht die “Radikalität des Kunstdiskurses bei Reusse ( …) weniger in der Transformation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit”, sondern vielmehr “in der nachdrücklichen Konsequenz, mit der er Temporalität als Eigentlichkeit des fotothermographischen Bildes begreift.” Dem kann entgegengehalten werden, dass Zeitlichkeit und die Sichtbarmachung des Unsichtbaren nicht in einem Verhältnis der Nachordnung stehen, sondern von Reusse in ihrem Zusammentreffen, ihrer gemeinsamen Zeit gezeigt werden. Schnittstelle sind die “3-4 Minuten danach”, die Reusse den Bildtiteln der Thermografien als Erklärung für ihre Zeitlichkeit hinzufügt. Die thermografischen Bilder von Kisten sind “imaginäre Skulpturen” (S. R.) an der Schnittstelle von Malerei und Fotografie. Malerei und Fotografie stehen nicht in Konkurrenz, wie die Piktoralisten bis in die 1920er Jahre hinein glauben machten, sondern die Fotografie zeigt sich als Bild der abstrakten Malerei. Die impressionistischen Maler versuchten das problematische Verhältnis der Malerei zur aufkommenden Fotografie damals zu lösen, indem sie nicht farbliche Gegebenheiten auf der Leinwand darboten, sondern das Bild als Wirkung im Auge des Betrachters stattfinden lassen wollten. Die Fotografie eines impressionistischen Bildes enthält ein ebenso paradoxes Potential, wie die in der Thermografie gesteigerte Fotografie. Während die Impressionisten das Licht malten und damit materialisieren wollten, begibt sich Reusse mit seinen Thermografien in das Reich der Schatten, in ein Feld jenseits des sichtbaren Lichtes. Claude Monets Bilder der Fassade der Kathedrale von Rouen, die er zu verschiedenen Zeiten malte, machten das damalige Kunstpublikum wahrscheinlich nicht nur nervös, weil sie in den Ozean der Welt der Erscheinungen eintauchen, sondern auch das Weltbild in Frage stellen, das die Kathedrale verkörpert/mitteilt, die überzeitliche Gültigkeit des religiös-christlichen Denkens. Die Auflösung in eine aus Pinselstrichen zusammengesetzte, lichtvolle, ständig wechselnde Erscheinung materialisiert zwar das Licht, entmaterialisiert jedoch die Welt der Gegenstände und die Gegenständlichkeit der Malerei hin zur Abstraktion und zugleich auch die Ansprüche eines institutionell gebundenen religiösen Systems zu einer unabhängigen künstlerischen Spiritualität. Reusse kennt den Punkt des Zusammentreffens und wieder Auseinandertriftens von Malerei und Fotografie in der Abstraktion, den William Turner in seiner Malerei schon vor Erfindung der Fotografie vorweggenommen hat und den die Impressionisten zum gegebenen Zeitpunkt als Maler neu durchdachten und ermalten. Reusses Thermografien beziehen ihre Energie aus malerischen Reaktionen auf die Fotografie, nehmen sie in den Bildprozess seiner fotografischen Wahrnehmung auf und öffnen sie an dem Punkt, wo sie nicht weiter zu wissen scheint. Konsequenterweise kann das malerische Potential seiner Fotografien nur aus der abstrakten Malerei kommen.
Eine orangefarbene Thermografie, die zwei übereinander gesetzte Bilder einer Kiste zeigt, setzt diese Erkenntnis in eine fotografische Arbeit um, die an die ungegenständlichen Bilder des Malers Mark Rothko anknüpft, der in seinem Werk verschiedene stilistische Phasen, auch die der impressionistischen Malerei durchlaufen hat, bevor er Ende der 1940er Jahre zur abstrakten Malerei kam. Im Gegensatz zu den anfänglichen Aufnahmen von Kisten in einem kalten Zustand, die, wenn sie in das sichtbare Farbspektrum übersetzt werden, blaue Farben zeigen, hat Reusse für die “Rothko” betitelte Arbeit (2001, C-Print/Diasec, 250×120 cm) die Aufnahme einer Wärme ausstrahlenden Kiste verwendet, die im orangen Farbbereich sichtbar wurde. Klaus Honnef schreibt, Reusse habe, leere Räume nach dem Entfernen von Stühlen oder Kisten aufnehmend, “merkwürdige Formballungen” oder “Formgerüste wie auf den Gemälden von Mark Rothko” entdeckt. Vielleicht muss der malerische Weg Rothkos neu überdacht werden. Auf jeden Fall öffnet Reusses Beobachtung eine bisher unbekannte Vernetzung in der Wahrnehmung von abstrakter Malerei und Fotografie. “Rothko” wiederholt die orangefarbene, an den Rändern verschwimmende quadratische Aufnahme einer sich noch in Würfelform befindenden, doch schon in auflösender Unschärfe begriffenen Kiste in einem reduziert definierten Raum, über deren oberer Fläche eine dunkelrote schmale Farbzone schwebt. Im Vergleich dazu zeigt sich Rothkos Farbfelder-Ästhetik in unregelmäßigen nicht-symmetrischen Formationen. In Reusses Sammlung vergleichbarer Bilder gibt es auch gereiht-blockförmig angeordnete Formationen zum Beispiel von neun blauen Bildtafeln in der Arbeit “Boxes” (1996, C-Print/Diasec, 300×300 cm). Reusse stellt seine Thermografien sparsam aus. Eine Wandfläche verträgt höchstens eine Arbeit oder eine streng formal in waagerechter oder senkrechter Reihung blockförmig gehängte Bildereinheit, die die von ihr gebildete Räumlichkeit konzentriert. Mehrere Arbeiten in einem Raum brauchen Entfernung, manche Arbeiten liegen einzeln, als Paar oder in einem Block auf dem Boden. Weit davon entfernt, zum Bestandteil der Architektur zu werden, schweben sie vor den Wänden, in ihrer glänzenden Flachheit und rechtwinkligen Klarheit unnahbar wie von fremder/unbekannter Hand materialisierte Projektionen. Reusse hat dabei auch die exakten geometrischen Formen und das serielle Aneinanderreihen/Anordnen der Minimal Art im Sinn. Reusse unterzieht ihre Exaktheit und Coolness einer künstlerischen Befragung, indem er sie in eine imaginäre Begegnung mit Rothkos abstrakter Malerei versetzt. Reusse fühlt mit seinen Arbeiten vorangegangene Kunstwerke nach Stellen ab, an denen sein Medium springende Punkte aufzeigen kann, als enthalte es einen Seismographen, der Möglichkeiten einer Verknüpfung/Verschaltung von künstlerischen Erfahrungssys-temen anzeigt, die (eigentlich) durch den Bruch ästhetischer Normen und durch die Zeit für immer getrennt zu sein scheinen. Ähnliche Arbeits- und Denkweisen finden sich zum Beispiel bei Paul Thek oder bei Rosemarie Trockel, die sich mit ihren in Objektkästen präsentierten Armskulpturen aus dem Jahr 2005 auf Paul Thek bezieht. In den 1960er Jahren setzte Thek seine wächsernen Fleischstücke (“Meat Pieces”) zum Beispiel in Beziehung zu Andy Warhols “Brillo Box“, zu den Glaskuben von Larry Bell oder versah sie mit silbern glänzenden, leicht schwingenden kinetischen Applikationen, nicht zuletzt um die “Coolness und Vornehmheit” der New Yorker Kunstszene dieser Zeit als unsensibel in Dingen der Wahrnehmung und erlebnis- und kulturlos zu entlarven, was ihn in den 1970er Jahren, nach einigen Wegen, die auch über die Hommage an das Quadrat von Joseph Albers führten, zu einer betrachterbezogenen künstlerischen Spiritualität gelangen ließ. Die Verschaltung mit einem anderen künstlerischen Werk oder einer anderen künstlerischen Position kann die Logik der eigenen Arbeit mit kommunikativen Qualitäten aufladen. Wenn einer der Minimalisten mit Mark Rothko zusammengearbeitet hätte, wäre vielleicht eine Arbeit wie Reusses “Rothko” herausgekommen. Für Reusse enthält die Fotografie das Potential künstlerischer Verschaltungen/Verknüpfungen, die künstlerische Grenzziehungen und ästhetische Normen in einen kommunikativen/dialogischen Prozess zurückholen können. Die Werkgruppe der Künstler-Portraits, die Reusse seit 1983 fortlaufend weiterführt, zeigt ein sich ständig annäherndes Bild der verändernden Energie der künstlerischen Zusammenarbeit und der damit verbundenen künstlerischen Öffnungsprozesse. Die Berührung mit dem Kosmos eines anderen Künstlers/einer anderen Künstlerin ist für Reusse mindestens so wichtig, wie die eigene künstlerische Konturierung/Selbstvergewisserung.
Reusse hat auch die Wärmeschatten von menschlichen Körpern aufgenommen, die soeben ihren Platz beziehungsweise den Raum verlassen haben. Diese körperliche Dimensionierung der Thermografien geht über die visuell gefilterte Wärme-Kälte-Graduierung von Gegenständen hinaus. Reusse vergleicht die Wärmespur, die der Körper hinterlässt, mit der Spur eines Geruches: “Geruch und Wärme unterliegen in der Wahrnehmung einer anderen Zeitlichkeit als das visuell erfasste Bild. Beide sind gleichzeitig flüchtig und träge. Folgen wir diesen Wellen, stellt sich auch die Frage nach der Verlässlichkeit unserer Wahrnehmung. Es ist zumindest vorstellbar, dass hypersensible Menschen diesen Wärmekörper erfühlen und derart rekonstruieren können, wie das bei Hunden beim Verfolgen einer Geruchsspur der Fall ist.” Reusse hat sich in verschiedenen Arbeiten mit dem Geruchssinn des Menschen und der Tiere befasst. Gerüche werden unter anderem mit visuellen Bildern/Orten verknüpft und dann im Gehirn gespeichert, wobei Menschen und Tiere jenseits individueller Sensibilitäten unterschiedliche Geruchsempfindlichkeiten ausgebildet haben. Die Wärmespur, die ein Körper auf einer Decke, einem Kissen oder auf einer Matratze hinterlässt, wirkt verletzbar und fremd, in ihrer schwebenden Ablösung vom Körper entmaterialisiert/abstrakt. Die Abfolge von Bildern eines sitzenden menschlichen Körpers nach drei Minuten und vier Minuten Abwesenheit (“Leaving Shadow/Human“, 1983, Polaroids und: C-Print, 80×58 cm), zeigt ihn in einem an die Zartgliedrigkeit eines Insektes erinnernden Transformationszustand, als sei die Nähe von Menschen und Insekten, wie sie der Insektenforscher Jean-Henri Fabre zur Vermittlung seines Forschungsgegenstandes beschrieben hat, nun in einer weiteren Beobachtung aktualisiert worden, um den Betrachter dabei mit der Frage zu konfrontieren, was Fotografien überhaupt zeigen.
Die Arbeit “Ghost“ (2009, B/W Druck, 120×160 cm) verschiebt schließlich den Abwesenheitscharakter der Fotografie in einem Gedankenspiel in das Geisterhafte/Unheimliche (Uncanny), wo eine Schattenbildung als Totenkopf erscheint, als habe Leonardo da Vinci in ihr gelesen, die in ihrer Wagheit/Schwachheit jedoch keine inhaltlichen Ansprüche erhebt, nicht fordernd daherkommt, sondern eher bettelnd von dem abhängig ist, was der Betrachter zulässt und sehen kann. In der Arbeit “Ghost” zeigt die Fotografie ihre untrennbare Beziehung zum Tod, verinhaltlicht sich, stellt sich selbst dar. Damit ist alles geöffnet und verschlossen zugleich. Die fotografische Treue zum Gegenstand erübrigt sich, “setzt nunmehr vielfältige Perspektiven frei, Sichtbares als solches zu befragen und neu zu konfigurieren,“ schreibt Georg Christoph Tholen, und: “Der Ort des Körpers löst sich auf. Seine vermeintliche Festigkeit und Dauerhaftigkeit verliert sich heute in immateriellen und virtuellen Gestalten, die bisweilen so gespenstisch scheinen wie jene digital kombinierten Bilder, die keine dingliche Unmittelbarkeit mehr bezeugen können oder wollen.“ “Ghost” meint auch den Schwebezustand, in dem sich die Bilder zur Zeit befinden. Die verfremdeten, geisterhaft wirkenden Physignomien der Arbeiten “Himself in Joy” (2000, C-Print/Diasec, 180×280 cm) und “Himself in Joy II” (2000, C-Print/Diasec, 110×340 cm) treten lauter auf, sind aber ebenso in Flüchtigkeit/Vergänglichkeit gefangen wie der Totenkopf oder die Wärmeschatten. In ihrer schiefen Verzogenheit und ständigen Mutation im Raum der Abstraktion sind sie vorher wie nachher nicht greifbar. Fotografien sind “keine schlichten Abbilder eines gewesenen Momentes, sondern mit sich selbst konfligierende Vorbilder und Nachbilder eines Augenblicks, der im Nachhinein erst als bedeutsamer Einschnitt sich erweist.”
Eine andere Sequenz von Arbeiten, zeigt Wärmebilder von Fürzen zwischen 18°C und 34°C als grüne Nebelwolken, die in schwarzer Dunkelheit/Raumlosigkeit leuchten, als handele es sich um ferne Lichter im unendlichen Universum, das den Körper und seine daran geknüpfte banale Realität hinter sich gelassen hat. Der latente Zynismus wird erst in dem Moment laut, in dem der Betrachter von der körperlichen Herkunft der Wolke erfährt und ihm dann, wenn er von dem Wissen nicht mehr absehen kann, das kosmische Potential der Bilder verlorengeht. Vielleicht wäre er lieber unwissend/unschuldig geblieben. Die Spiegelung des Betrachters in der Acrylglasoberfläche führt den Betrachter als einen weiteren flüchtigen Schatten in das abstrakte Bildgeschehen ein.
Die Thermografie “Hot Trace (Kriechspur)“ (2004, C-Print/Diasec, 160×480 cm) zeigt die nebelförmige Spur eines Weges, die der Künstler kriechend hinter sich gebracht hat. Als Bodenarbeit präsentiert, könnte sie in verschiedenen räumlichen Bezugssystemen ihre Permeabilität entfalten, indem sie im Kontext Inhalte freisetzt, ohne ihre Autonomität zu verlieren. Im Kontext eines Bürogebäudes, in einem Park, in einer Fußgängerzone, in der Wüste oder in einer Kirche eröffnet die Arbeit unterschiedliche Aussagen über das Lebens- und Sinngefüge und die in ihm gespeicherten Wahrnehmungen und Bedeutungen, erfragt schließlich eine Stellungnahme des Betrachters.
Zu einer anderen thermographischen Bildgruppe gehören Arbeiten mit Titeln wie “Sleeper” oder “Sleeper/Victims” (1996-2008, C-Print/Diasec, 180×240 cm), die zu der Werkgruppe “Leaving Shadows” gehören. Reusse hat seine frühe Beschäftigung mit journalistischer Fotografie bewusst aufgenommen und sich mit einer thermographischen Kamera in Strassen, Hinterhöfen oder in verlassenen Häusern aufgehalten, um die Wärmeschatten physisch und psychisch verletzter, berauschter oder erschöpfter Menschen aufzunehmen, die dort kurze Zeit zuvor gelegen, gekauert oder geschlafen haben. In journalistischer Herangehensweise zeichnet er Bilder von Menschen auf, die im gesellschaftlichen Gefüge ortlos sind, auf der Strasse leben und dort ihrer Vereinzelung, sozialen Beziehungslosigkeit, Verlassenheit, Armut, Schwäche und Verzweiflung ausgesetzt sind. Ohne sich in eine anklagende Position zu begeben, zeigt Reusse die Bilder von lichtvoll, weiß scheinenden körperlichen Wärmespuren im Kontrast zu einem grau-schwarzen Umfeld. Während die individuelle Physiognomie der Menschen in größtmöglicher Abstraktion erscheint, trägt die Anonymität und formale Unschärfe zu einer Verinhaltlichung bei, in der sich die verlorenen Gestalten als Lichtgestalten aus ihrer Situation zu lösen scheinen. Die journalistische Herangehensweise wendet sich vom Faktischen in die inhaltliche Offenheit, so wie sich in den Künstler-Portraits von Harry Kramer und Rob Scholte der zynische Blick in Haltungen wendet. Die Frage der Hoffnung stellt sich nicht, und auch die Fragen der Heilung und Erlösung bleiben unbeantwortet/unbesprochen. Reusse hat in der Nichtsichtbarkeit einen möglichen Transformationsprozess aufgespürt. Mit der Dazwischenschaltung “apparativer Realitäten” (S. R.) und der Zurücknahme der Beteiligung seines eigenen Blickes im Moment der Aufnahme gelingt es ihm, bildliche Realitäten aufzuspüren/aufzuzeichnen, die fremde, gegenläufige Wahrnehmungen verlangen, die möglicherweise sogar die Trennung von Realem und Imaginärem, wie sie Sartre beschreibt, aufheben und dabei das Imaginäre aus seiner Isolation entlassen. Sartres “imaginäres Ich” bricht zusammen, wenn es mit der Realität in Berührung kommt. Für ihn geht das Betreten des Imaginären mit der eigenen Irrealisierung einher. Der Traum ist “die vollständige Verwirklichung eines geschlossenen Imaginären.” Reusses stellt nicht die Zeitschatten und Raumschatten imaginärer Welten dar, sondern nimmt Wärmeschatten realer Körper und Gegenstände auf, die in ihrer strahlenden Realität von einem imaginären Potential umgeben sind. Reusses verlorene Gestalten, die sich am Rande der Gesellschaft, irgendwo auf der Strasse, in einem Hinterhof oder in einem verlassenen Haus abgelegt haben, wurden in der alltäglichen Realität des städtischen Raumes aufgefunden (zum Beispiel in Mühlheim, Marseille, Lissabon, Köln), werden im apparativen Prozess der Wärmekamera entmaterialisiert und treten in eine andere, bildliche Realität ein, die sie, Imaginäres und Reales überblendend und dabei ununterscheidbar machend, als eine in abstrakte Schönheit getauchte Lichtgestalt, als “imaginäre Skulpturen” (S. R.) zeigen. Auf die Frage, was denn nun eigentlich real ist, die verlorene Gestalt oder die Lichtgestalt, wird der Betrachter höchstenfalls mit einem lakonischen Schulterzucken bedacht. Schließlich sind die Wärmestrahlen vom Körper der verlorenen Gestalt ausgegangen, bezeugen/belegen also seine Realität und bringen gleichzeitig ihre imaginäre Gestalt hervor, die aus den Bewertungen der realen Welt gelöst, die freie Bewegung in der Welt des Imaginären möglich machen. Als träumende Schläfer gebieten sie Respekt, ihren Schlaf zu stören grenzt an ein Verbrechen. Guillaume Apollinaire hätte dem Betrachter beim Anblick der “Sleeper/Victims” vielleicht sein “Schön, wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch” zugerufen und dann mit den Schultern gezuckt, er, der in der Zeit vor der Zeit des Fernsehens, des PCs und des Internet gelebt. Spätestens beim Anruf Apollinaires wären Reusses “Sleeper/Victims” dann in der Welt des Traumes angekommen, wo das Unbewusste waltet, Bilder auf- und abtauchen, die niemand je kennen wird, über die selbst der Träumende nicht verfügen kann, die sich innerlich ereignen. Ohne Träumer kein Traum, ohne Traum kein Träumer. Nur, von wem wird der schlafende Träumer geträumt? Auf jeden Fall halten die Bilder den Erinnerungen des Betrachters an Bedeutungen, die das Bild endgültig entzaubern könnten, stand. Ohne Forderungen und Vorwürfe warten sie auf die “Reinigung der Antennen” (Paul Thek) und das “geistige Durchatmen” (S. R.) des Betrachters. Reusse will die Bilder der verletzten Menschen in dieser inhaltlich geöffneten Wirklichkeit zeigen, in der der Betrachter sich einfinden kann, wenn er bereit dazu ist, so wie er die Unschärfe der Wolfsbilder scharf stellt, wenn er über die Wölfe und die Interpretationen/Vorurteile des Menschen, die sich um ihn herum gebildet haben, nachdenkt, bis er an den Punkt kommt, wo er dem punctum der Bilder begegnet, wo ihm klar wird, dass sie keine interpretierende Annäherung bewirken, sondern die Wahrnehmung öffnen wollen. Die Wirklichkeiten, die ihm dann begegnen, findet er selbst, muss er selbst finden. Susan Sontags Forderung nach einer präzisen, scharfsichtigen und liebevollen Beschreibung von Kunstwerken, die an die Stelle von Interpretationen treten soll, findet in Reusses “Sleeper/Victims”, eine künstlerische Übersetzung in Bildern von gestrandeten/ verlorenen Menschen. Vielleicht bemerkt der Betrachter auch, dass Reusse seine anfängliche Beschäftigung mit der Blindheit weiter geführt hat, sie durch seine Auseinandersetzung mit den direkten, an soziale Botschaften und Gesellschaftskritik geknüpften künstlerischen Arbeits- und Denkweisen des California Institute of Arts (CalArts) – “intellectually rigoros methods of inquiry and reflection” – auf soziale/gesellschaftliche Blindheiten gelenkt und dabei Bilder gefunden hat, die nicht anklagen, sondern zwischen Schmerz und Verklärung schweigen. Sie lassen eine Stille hörbar werden und wirken jenseits politischer Korrektheit (political correctness) so, als könnten sie, weil sie fotografierte Bilder sind, den Tod/das Ende vorwegnehmen, den die in diesen Situationen fotografierten Menschen immer wieder durchleben, “ihr in der vollendeten Zukunft oder vollendeten Vergangenheit gestorben sein.”
Während Derek Jarmans Film “Blue” (1993) ohne laufende Bilder, nur mit einem stehenden leuchtend-blauen Bild, Geräuschen und Stimmen auskommt, und damit in der Vorstellung des Betrachters stattfindet, könnten sich die Betrachter der “Sleeper”-Thermografien, das Filmpotential der bei Musik hervorgemalten kinematografischen Bilder Reusses aufnehmend, zum Beispiel Strassen- und Hinterhofgeräusche, das Hallen von Schritten in einem verlassenen Haus vorstellen. Die Stille der Fotografie würde dann in das Leben zurückgeführt, ein imaginärer Film zurückgespult, der die vorangegangene Geschichte des Menschen zeigt, bevor er an die Stelle gekommen ist, wo ihn Reusse fotografiert hat, als erstes oder letztes, stehendes Bild im Film. Vielleicht käme der Betrachter, geblendet vom Licht des im sozialen Abseits liegenden Menschen, jenseits von Angst, Ekel, Zurückweisung und Diskriminierung, die Abstraktheit der Bilder als Leerstelle erkennend, bei seinen eigenen Verletzungen und Schwächen an, käme dazu, wie in Reusses Portraits von Harry Kramer, César oder Rob Scholte, die eigene Wunde zu zeigen, mit sich selbst in einen Dialog einzutreten, sich dabei nach seiner Geschichte, seinen Haltungen und möglicherweise auch nach seinen Handlungen/Verhaltensweisen zu fragen. Die existentielle Ausstrahlung der Reusse’schen Thermografien, besonders der “Sleeper/Victims” ist auf friedliche Art unausweichlich. Womöglich macht der Betrachter die Bilder vorübergehend zu seinem Selbstportrait.
Die Sequenz “Drawing by Chairs” greift die Bilder von leeren Stühlen (“Leaving Shadow/2 Chairs“, 1994/1989, 3 minutes after leaving the place, C-Print /Diasec, 110×60 cm und “Leaving Shadow/Chair-Double”, 1994/1989, 3 minutes after leaving the place, C-Print/Diasec, 200×180 cm) auf, die die im blauen Raum leuchtende Restanwesenheit eines Menschen bei gleichzeitiger Vorwegnahme durch den leeren Stuhl dessen, was im Ablauf der Zeitlichkeit in einigen Minuten zur Abwesenheit geworden und als Symbol der Abwesenheit zur vollen Geltung gekommen sein wird, so wie das Zukünftige/Bevorstehende irgendwann Vergangenheit sein wird. Die “Drawing by Chairs”-Bilder zeigen die Linien, die entstehen, wenn man einen Stuhl oder mehrere Stühle über den Boden zieht. Reusse hat den Raum und die Stühle gekühlt, dann die Stuhlbeine in weiten zeichnenden Bewegungen über den erwärmten Boden gezogen und dabei eine 300×500 cm große Zeichnung eines Elches entstehen lassen, die an die Größe der hervorgemalten Bilder des Elephanten und der Giraffe anknüpft. Von dieser Bodenzeichnung git es thermographische Abbildungen wie zum Beispiel die Arbeit “Elch” (150×180 cm). Die “Drawing by Chairs”-Bilder erscheinen in fruchtig-grüner, zitronengelber und oranger Farbigkeit, scheinen jeden Gedanken an Abwesenheit vertrieben zu haben und lassen das Gedankenspiel zu, sie könnten sich selbsttätig bewegen und dabei Zeichnungen hervorbringen, sich Linien zeichnend aus ihrer Gegenständlichkeit lösen, künstlerische Aktivität ergreifen, dabei die Fotografie als Beweismittel nutzend, dass Gegenstände nicht unbedingt als tote Gegenstände betrachtet werden müssen, sondern in menschliche Handlungen eingebunden sind. Eine großzügige künstlerische, in versteckter Form humorvolle Schleife, die Reusse zieht, um die stillstellende Nähe des Todes/der Vergänglichkeit in der Abwesenheit, durch Bewegung zu polarisieren und ihre schwermachenden Absolutheitsansprüche in der Leichtigkeit der gezeichneten Linien zu relativieren.
Bewegte Bilder – Lichtskulpturen – Authentizität – Zeitlichkeit
Künstlerischer Ort:
Laser-Arbeiten
Neon-Arbeiten
In Stephan Reusses Arbeit zeichnet sich eine künstlerische Konsequenz ab, die der Tendenz der Fotografie zur (absoluten) Subjektivität apparative und mit ihr verknüpfte inhaltliche Realitäten gegenübergestellt hat. Reusse geht nicht von der Bildrealität aus, sondern lässt Sehen, Erleben und Denken im künstlerischen Prozess möglichst ungefiltert zusammentreffen. Medienreflexive Fragen werden mit der experimentellen Haltung des Künstlers vernetzt. Frühe Arbeiten aus den 1980er Jahren wie die Hervormalungen einer Fotografie in einer Performance oder Thermografien, die Wärmekörper abbilden, schaffen eine zeitliche und räumliche Distanz zwischen dem künstlerischen Bild und dem Augenblick des Fotografierens.
Die Laser-Arbeiten Reusses öffnen diese Konsequenz für weitere Abstraktionen und Intensitäten, vor allem jedoch für die Frage nach der Authentizität eines Bildes. Während das Licht als Parameter der Fotografie bisher keine ausdrückliche Rolle für Reusses fotografischen Blick spielte, macht die Laser-Linie nun “imaginäre Lichtskulpturen” (S. R.) möglich. Sie entstehen aus Vektorisierungen, wobei sie einer gefilmten realen Bewegung nachgehen und nicht aus einer virtuellen Welt generiert werden. Sie fordern eine Umkehrung im Denken, denn nicht die zeichnende Hand des Künstlers führt die Linie der sich bewegenden Laserfigur, sondern die Linie, aus Punkten gebildet, trägt das Potential in sich, die Bewegungen einer Maus, eines Affen oder einer Tänzers zu denken und dieses Denken in komplexen Arbeitsschritten sichtbar zu machen. In seinen Laser-Arbeiten “sieht und denkt” Reusse “in der Linie” (S. R.). Reusse zeichnet schon lange. Alle fotografischen Arbeiten, Performances, Objekte und Installationen zeigen sich zunächst in einem zeichnerischen Umkreisen und Herausfiltern einer Idee, in dem der Künstler ihr gedankliches Potential und die sich daraus ergebenden materiellen und formalen Konsequenzen findet. Reusses Zeichnungen liegen wie ein Gedankengewebe unter seiner künstlerischen Arbeit. In seinen Laser-Arbeiten denkt Reusse gegen sich selbst als zeichnenden Künstler. Er denkt nicht mit der Linie, sondern er schlüpft/kriecht mit seinem Denken in die Linie und findet dort die Bewegung, als denke die Linie ihre Bewegung, als denke das “bewegte Bild” (S. R.) sich selbst und löse sich in diesem Prozess von seiner Autorschaft. Gegenüber den Laser-Arbeiten “Mice” (2007) und “Monks” (2007/2008) gewinnt dieser Ablösungsprozess in der Anthropomor-phisierung der Linie als Umriss- und Bewegungslinie eines menschlichen Körpers in “Dominique” (2009) an faszinierender Intensität. Während “Mice” und “Monks” mit dem grünen Laserstrahl arbeiten, so wie er auch in militärischen oder medizinischen Kontexten eingesetzt wird, scheint die Lichtlinie der sich bewegenden menschlichen Gestalt gefiltert worden zu sein. Sie erscheint als weiß leuchtende Linie, die sich aus diamantenem Lichtstaub aufbaut und sich in ihrer immateriellen Wirkung einer gegenständlichen Beschreibung entzieht. Dieser immateriellen Wirkung steht eine apparative und computerlogische Realität gegenüber, die für die Arbeiten, erst entwickelt werden musste, zum Beispiel das weiße Licht für die Arbeit “Dominique” oder die Festlegung der Räume, die die Mäuse durchlaufen. Reusse bewegt sich mit seinen Laser-Arbeiten in einem Feld, wo die künstlerischen Ansprüche an die “bewegte Linie” und an die eigene Durchlässigkeit im Prozess der Bildfindung mit der Fähigkeit zur Abstraktion und technologischer Pionierarbeit verknüpft sind. Reusse betrachtet die Laser-Arbeiten als Wendepunkt in seiner künstlerischen Arbeit. Während sich die Fotografie in den 1970er Jahren und lange Zeit später noch künstlerisch und medienreflexiv behaupten musste, geht es Reusse seit 1990 schrittweise darum, die Medien “direkt zu nutzen”, die Kraft des Mediums in der Bildsprache aufzuspüren und dabei künstlerische Arbeiten herzustellen, die sich nicht erklären, sondern “sofort da sind” (S. R.). Dabei knüpft er die Frage nach dem authentischen Bild an die Frage der Darstellung einer authentischen Bewegung. Eine reale Bewegung scheint so vertraut, so selbstverständlich zu sein, aber schon das einfache Nachahmen einer Bewegung mit dem eigenen Körper wirft Fragen auf, die in der Unbeholfenheit des Nachahmenden sichtbar werden, ohne dabei schon in der Sprache angekommen zu sein, geschweige denn in einem ihrer möglichen Bilder.
Die Arbeitsprozesse, die Laserinstallationen wie “Mice” (2007), “Monks” (2007/2008) und “Dominique” (2009) vorangehen, kommen nicht mit dem Versprechen des Erfolges daher, sondern finden in Annäherungen und vielfachem Versuchen statt. Ob sie gelingen werden, bleibt die ganze Zeit über in der Schwebe. Das Denken in der Linie fordert die Bereitschaft sich immer weiter von einem ergebnisorientierten Denken zugunsten prozessualer Unwägbarkeiten zu lösen. Das Material, die realen Bewegungsabläufe, die Linie und die computerlogischen Möglichkeiten korrigieren das Denken des Künstlers, was durchaus schmerzen kann. Der Arbeits- und Denkprozess zeigt ihm das Bild nur langsam und mit Widerständen. Reusse hat die Arbeiten “während des Machens erfahren“ (S. R.). Er arbeitet nicht an comichaften Bewegungen, sondern an möglichst flüssigen Bildern der Bewegung. Dieser Läuterungsprozess eröffnet ihm die Chance, seinem eigenen Bildanspruch gerecht zu werden, und nicht den Bildansprüchen des Marktes, der dem herrschenden Stand des Mediengebrauches und der Bilderproduktion entspricht. Reusse versucht, seine Laser-Bilder so weit wie möglich von Fremd- und Selbstmanipulationen freizuhalten, dabei gleichzeitig die Abstraktion aus den mit ihrer Ungegenständlichkeit einhergehenden Missverständnissen und Vorurteilen herauszuschälen, um ein authentisches Bild entstehen zu lassen, das nicht aus einer Animation oder dem Cyberspace kommt, sondern wie die Thermografien auf einem “echten Ereignis” (S. R.) beruht.
Die medienreflexive Spur hat sich in den Laser-Arbeiten nochmals verdichtet, um sich gleichzeitig aus ihr zu lösen. Ein junger Mann erklärt seiner Mutter, während sie vor Reusses Laserinstallation “Mice” (2007) stehen und dort verweilen: ”They are not there, they are only in your memory.” Damit ist nicht gesagt, woran sich der junge Mann erinnerte, als er Reusses Arbeit “Mice” betrachtete. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Bildern, die Vergänglichkeit und den Tod nicht als Thema vorführen/zeigen, sondern den der Fotografie innewohnenden Tod reflektieren, hat Reusse lange darüber nachgedacht, welches Tier für seine noch zu entwickelnde Laser-Arbeit geeignet sein könnte. Schließlich erschien ihm die Maus in ihrem ununterbrochenen In-Bewegung-Sein, als flackerndes, nervöses Lebewesen geeignet, ein in einer Linie gedachtes, bewegtes Bild zu entwickeln.
Während Reusse die Arbeit “Mice” als Konzeptarbeit angegangen ist, geht die Arbeit “Dominique” von einer Performance des Tänzers Dominique Merci aus, deren Choreographie er “exakt” (S. R.) mit ihm abgesprochen und während ihrer Ausführung gefilmt und im Nachgang mit vielen Zeichnungen nachvollzogen hat. Auch in diesem Zusammenhang hat Reusse vorher sorgfältige Recherchen über die Performance als Medium, in dem er sich selbst künstlerisch bewegt, und den Tanz gemacht. Reusse betrachtet die Bewegungen, die der zum Ensemble von Pina Bausch gehörende Tänzer Dominique Merci ausführt, als besonders geeignet, die vielschichtigen Übersetzungsprozesse zu ermöglichen, die dann zum authentischen Bild einer sich in der Bewegung erfindenden menschlichen Figur führen. Sie laufen durch den Filter der Ansprüche, die an ein abstraktes Bild gestellt werden, wenn es darum geht, sich frei bewegen zu können. Eadweard Muybridge entdeckte 1878 mit seiner Fotografie, dass ein Pferd im Galopp für einen Moment schwebt, was vorher, ohne seine kurz hintereinander aufgenommenen Fotografien/Sequenzen mit dem bloßen menschlichen Auge nicht gesehen werden konnte. Künstler des frühen 20. Jahrhunderts haben die Vorstellung des Schwebens, die Lösung von den Gesetzen der Schwerkraft, intensiv in ihr Denken aufgenommen. “Das Geistige in der Kunst”, das zu Wassily Kandinskys künstlerischen Erkenntnissen gehört, ist ohne das Veränderungspotential des Schwebens, der vorübergehenden, nicht näher bestimmbaren Ablösung von Raum und Zeit, nicht denkbar. Aus dem Empfinden/Denken des Schwebens erwachsen Anforderungen an die künstlerische Abstraktion, die mit der Ungegenständlichkeit nicht erledigt sind.
Die Laserinstallationen sind sowohl für Innenräume gedacht, als auch für öffentliche Kontextualisierungen, wenn die Maus auf der Fassade der spanischen Synagoge in Prag oder an einer blätterbewachsenen Wand in Paris erscheint oder der Affe sich an der Dachrinne eines Hauses in Mannheim entlang schwingt. Sie sind “unabhängig von Projektionsflächen” (S. R.).
“Mice” war auch zur Eröffnung der Nam June Paik Art Centers in Yongin-Si (Südkorea) 2008 und im Rahmen der Ausstellung “Hundred Stories about Love” im Museum des 21. Jahrhunderts für Zeitgenössische Kunst in Kanazawa (Japan) 2009 zu sehen. Die Ausstellungsbesucher reagierten auf die auf der Wand laufende Maus, indem sie ihr hinterher sprangen oder Gesten des Auffangens oder Entlaufenlassens machten. Reusse hat diese sich spontan ereignenden interaktiven Situationen/ Handlungen in fotografischen Sequenzen wiederum aufgezeichnet. Die spontanen Interaktionen der Ausstellungsbesucher, nehmen das dialogische Potential auf, aus dem auch seine fotografischen Arbeiten leben, sei es ihre Vernetzung mit den existentiellen künstlerischen Handlungsformen der Performance, sei es das Collaboration-Konzept seiner Künstler-Portraits, als wäre dieses Potential in den Laser-Arbeiten noch einmal in gesteigerter Form wahrnehmbar geworden. Reusses künstlerische Haltungen und Erfahrungen wirken bis in die Tiefenschichten seiner Arbeiten. Wenn sich die Linie auffaltet und zur Beschreibung einer Form übergeht, beult, verformt, mal ungegenständlicher und dann wieder gegenständlicher wird, entsteht für den Betrachter neben der Erinnerung an die sich bewegende Maus, den Affen, den Tänzer, der Eindruck, als könne er im Gehirn des Künstlers lesen, den Prozess der neuronalen Verschaltungen sehen, die die Bewegung in der Bildwerdung des Denkprozesses durchlaufen hat, bevor sie in der Ikonizitätsform, in der sie sich nun zeigt, sichtbar wurde. Die Qualität der Laserinstallationen Reusses liegt darin, dass die Widerstände des Arbeitsprozesses nicht sichtbar sind, sondern mit einer Leichtigkeit ablaufen, als wären sie schon immer da gewesen.
Reusse geht den künstlerischen Möglichkeiten der beleuchteten Linie weiterhin experimentell nach, indem er als Neon-Arbeiten ausgeführte Zeichnungen entwickelt, die wie die Laser-Arbeiten unabhängig von Projektionsflächen sind und jeden Raum in ihre Zeitlichkeit hineinnehmen können. Der Betrachter sieht keine glatte, gebogene Neon-Linie, sondern einen bewegten, “leicht zittrigen” (S. R.), dem Duktus (S. R.) der Hand nachgebildeten Linienverlauf. Jüngstes Beispiel ist die Arbeit “ “ (2010). An eine Wand wird eine hin- und herwiegende Schlinge projiziert, deren Bewegung in dem nacheinander geschalteten Aufleuchten von drei etwa 2 m hohen, Neonformationen entsteht. Es handelt sich nur scheinbar um ein und denselben Strang, der, weiß aufleuchtet, derweil die Form der Schlinge in den drei Formationen unterschiedlich ist. Irgendwann erscheint an anderer Stelle eine in nachlässiger Linienführung und Schrift auftretende giftig türkis und pinkfarben leuchtende Sprechblase, die diese Verschiedenheit zu kommentieren scheint: “Take three for one”. Die Zahl ist beliebig. Es könnten auch mehr sein. Dann erscheint an anderer Stelle eine zweite, nun unverkennbar in comichafter Sprache auftretende Sprechblase, als wandere eine Stimme durch den Raum oder es riefen nacheinander verschiedene Stimmen aus verschiedenen Positionen. “Given it up without a chair.” Dann eine dritte Sprechblase: “You’ll figure it out somehow.” Derweil schaukelt die leere Schlinge als fortdauerndes Bild kritischer Absagen, Erinnerungen, der Möglichkeiten und auch der Verführung. Angst, Bedrohung, Bestrafung, feindliche Vernichtung, Unmenschlichkeiten und Menschlichkeiten, die zwischen Todesstrafe und Freitod, Schuld und Unschuld liegen, schwingen mit. Der leuchtende Strang fragt den Betrachter nach vielen Dingen, zum Beispiel nach dem Vollzug des Todes durch Erhängen an einer jungen islamischen Frau, die der Unkeuschheit angeklagt war, während der Mann, der sie vergewaltigte, unter den Zuschauern war. Die Arbeit leuchtet störend in das Unbewusste hinein, wo tief verborgen Haltungen ruhen/vergraben sind, die das Leben, den Tod und die Menschen betreffen. Die Fragen können sehr verschieden gestellt werden und lange nachwirken. Wahrscheinlich fallen sie direkter aus, als die reflektierten Texte von Jenny Holzer, die in Form von laufenden Schriftbändern in die Haltungen des Betrachters hineinsprechen, zum Beispiel “Truisms” (1977-79) wie “Abuse of power comes as no surprise”, “Murder has ist sexual side”, “Torture is barbaric”, “Your oldest fears are your worst ones” etc. oder in “Venice Text” (1990): “I always justified my inactivity and carelessness in the face of danger because I was sure to bei someone‘s victim.” Während Holzer mit Sprache arbeitet und mit der Fähigkeit des Betrachters zum Diskurs rechnet, bleibt der Betrachter der Neon-Zeichnung Reusses im Ungewissen, ständig die ambivalente Offenheit des Bildes in seiner rücksichtslosen Einfachheit und mehrdeutigen Gefahr vor Augen, die er möglicherweise in Fragen übersetzen wird, die eine punktuelle Stellungnahme oder ein verstrickendes Antwortgefüge nach sich ziehen, möglicherweise auch unbeantwortet bleiben. Die weitverzweigte Perspektivität und der Allgemeinheitscharakter von Arbeiten wie Holzers “Truisms” (Dt.: Binsenweisheiten) hat sich in der für die Biennale in Venedig 1990 entstandenen Arbeit “Venice Text” in den persönlicheren Text einer Ich-Aussage gewandelt. Im Vergleich dazu bewegt sich Reusses Neon-Zeichnung zwischen dem Allgemeinen und Persönlichen in der unauflösbaren Ambivalenz eines Bildes, das durch Sprache nicht einzuholen ist. Reusse hat auch in dieser Arbeit das Barthes’sche punctum der Fotografie beibehalten. Die Sprechblasen bleiben still, von der Stille der schaukelnden Schlinge ganz zu schweigen. Angesichts der Fragen, die der Betrachter in seinem Inneren bewegen könnte, leistet sich Reusses Neon-Zeichnung ein verwegenes Grinsen, einen gewissen Humor, nicht etwa aus Respektlosigkeit, sondern weil sie mit dem Betrachter keine Symbiose eingehen will, als würden nicht nur die Fragen in “wohltuender Verwirrung” in Frage gestellt, sondern als frage die künstlerische Arbeit, ob sie als Bild standhält. Die Ernsthaftigkeit in der Zeichnung der weißen Neon-Schlinge wird durch die nachlässige und comichafte zeichnerische Gestalt der farbigen Sprechblasen relativiert. Im Vorfeld der Arbeit sind viele Zeichnungen entstanden. Darunter befinden sich auch zeichnerische Studien von Knoten. Andere Zeichnungen beschäftigen sich mit der Form elektrischer Stühle. Die Zeichnung “plane 1” stellt einen elektrischen Stuhl dar, der den Festgeschnallten im Liegen tötet. Neben den Zeichnungen hat Reusse Recherchen durchgeführt, in denen er Informationen über Menschen, die zum Tode verurteilt auf den Vollzug warten oder an denen die Todesstrafe vollstreckt wurde, zusammengetragen hat. Es wäre künstlerisch gesehen fremdbestimmt gewesen, Andy Warhols Siebdrucke von elektrischen Stühlen wieder aufzugreifen. Im Anschluss an seine bewegten Laser-Arbeiten sucht Reusse nicht nach dem Bild eines Gegenstandes, sondern nach dem Bild einer Bewegung, das dem Betrachter den menschlichen Raum öffnet. Dabei geht es ihm nicht um schnelle Effekte an der beschleunigten Front der Medienkunst, deren Bilder sich in kurzer Zeit verbrauchen, sondern darum, ein unverbrauchbares Bild zu finden. Reusses Neon-Zeichnung klagt nicht an, sie zerrt nicht, drängt nicht, sondern fragt offen, ernsthaft und humorvoll. Der Betrachter kann seinen Kopf jederzeit wieder aus der Schlinge ziehen. Als verlangsamtes Pendel einer Uhr betrachtet, scheint die schaukelnde Schlinge die Zeit aufzuhalten, die Zeit verschlingende Objekt-Uhr zu entobjektivieren, die Zeit aus ihrer Besitzbarkeit zu lösen, einen Zeitraum zu gewähren, die beschleunigte Zeit langsamer werden zu lassen, das Vergehen der Zeit sichtbar zu machen, sich in der Stille der Zeit aufzuhalten.
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