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Klaus Honnef

Kunstforum Bd.64, 1986

 

Realität als Fiktion, Fiktion als Realität

Wenn eine Fotografie die Dokumentation eines Dokumentes ist, die Aufzeichnung einer Person oder einer Situation, die sich einmal da, wo sie aufgezeichnet wurde, befunden hat, trifft dies im Prinzip auch für Stephan Reusses Infrarot-Aufnahmen zu, aber nicht im faktischen Sinne. Sichtbar wird lediglich eine Art Emanation einer körperlichen Erscheinung, tatsächlich der Wärmeschild, den ein Körper, der, als die Aufnahmen getätigt wurden, längst den Platz gewechselt hatte, hinterließ. Die Differenz zur gewöhnlichen fotografischen Aufnahme besteht in dem unterschiedlichen Zeitpunkt der Auflösung des fotografischen Prozesses. Die Fotografie ist das Zeugnis eines Anwesenseins von etwas Abwesendem. Die Aufnahmen Stephan Reusses halten etwas fest, das gar nicht mehr vorhanden war, als das Bild gemacht worden ist.

Seine Bilder veranschaulichen etwas durch und durch Unanschauliches, keinen Gegenstand, keine Person, keine Situation, sondern eine fühlbare und eben nicht sichtbare Qualität, die Spur von Menschen, für deren einmalige Anwesenheit nicht allein ein fotografisches Bild das einzige Zeugnis ist, vielmehr eine der Abbildbarkeiten ansonsten völlig entzogene Qualität. Dadurch erhalten seine Aufnahmen eine magische Dimension. Obwohl sie fest dem Grundsatz des dokumentarischen Fixierens verhaftet sind. Wie sich der animistische Magier die Welt als von Geistern durchseelt vorgestellt hat, erscheint in Reusses Aufnahmen die Wirklichkeit vom Menschen durchdrungen, von seiner Allgegenwärtigkeit geprägt, selbst, wenn er überhaupt nicht zu sehen ist.

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