Überspringen zu Hauptinhalt

Gabriele Wurzel

Für Kunstmagazin Frame, März 2008

 

Unmöglich, in seinem Konsonantenstakkato eine Lücke zu erwischen, durch die man sich symmetrisch in das Gespräch einklinken könnte. Stephan Reusse redet, seinem alerten und sprungbereiten Denken entsprechend, sehr schnell. Er fordert sein Gegenüber, ist hochkonzentriert, wirkt eher spröde und distanziert, sein Gesicht verrät wenig über die Bewegung im Inneren. Nur manchmal taut er etwas auf, lässt einen teilhaben an seiner Begeisterung über die Songlines der Aborigines, seine kontinuierliche Dialogsuche in der Kunst, das nächtelange Warten in der Dunkelheit der kanadischen Wildnis, um fast achtzig Stunden Material für sein bekanntes 20-minütiges Video „Wolves“ aufzunehmen.

Schon in den frühen 80ern, als in Deutschland der Neoexpressionismus auf der einen und die Großbildphotographie auf der anderen Seite en vogue waren, geht er seinen eigenen Weg. Nach drei Jahren Photographiestudium an der Folkwangschule in Essen wechselt er 1980–1986 an die Kasseler Akademie zum Aktionskünstler Harry Kramer, wo auch Performance und Bildhauerei zum Thema werden. In den Werkkomplexen „Safari Deutschland“ (1984–1986) sowie „Collaborations“ bringt er Photographie und Aktion zusammen. Hinter den „Collaborations I“ (1982–1989) verbergen sich Gemeinschaftsarbeiten mit Künstlerkollegen. Die Nachfolgeserie „Collaborations II“ (1989–2001) besteht aus präzisen Porträts verschiedener Künstler, die deren individuellen Gestus szenisch umsetzen. Er inszeniert zwar: „Photo war für mich immer Bühne“, aber er verfälscht nicht. „“Meine Bilder sind alle authentisch. Ich würde nie montieren, ich würde nie Fakes machen.“ Während seiner Arbeit an den Porträts muss er immer wieder für das richtige Verhältnis von Intensität und Distanz sorgen. Er lässt die Dargestellten bei sich sein, funktioniert wie ein Katalysator, verdichtet.

Sein künstlerischer Entwicklungsprozess verläuft nicht programmatisch. So existieren unterschiedlichste Werkstränge parallel, werden zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen. Als roter Faden zieht sich seit 1982 die Arbeit mit der Wärmebildkamera durch sein Œuvre und gibt ihm von da an seine unverwechselbare Prägung. Die Wärmebildtechnik bzw. Thermographie ist ein bildgebendes Verfahren, dass sensibel auf die Wärmestrahlung des jeweiligen Objekts reagiert und diese in flächenhafte Bilder mit farblich verschiedenen Bereichen „übersetzt“ – im Gegensatz zur Photographie, die auf die optischen Reflektionen reagiert. Ursprünglich in erster Linie für militärische, medizinische und kriminologische Zwecke entwickelt, erzeugt das Verfahren jene typischen, fast psychedelisch kreischbunten Bilder, die vertraute Bildgegenstände so fremdartig und interessant werden lassen. Diese eher poppigen und in ihrem Detailreichtum verwirrenden Effekte sortiert er zugunsten eines reduzierten Gesamtbildes aus, indem er an seiner Thermokamera das Wärmespektrum individuell festlegt, die Aufnahme nach Einzelfarben filtert. So präsentiert sich die Mehrzahl seiner Thermographien in kühlem Schwarzweiß, einzelne Serien weisen eine bläuliche oder rötliche Grundtonalität auf.

Unter dem Reihentitel „Leaving Shadows“ beginnt Reusse ab 1982 mit verschiedenen Serien: „Bed“, „Sleeping Track“, „Human“, „Ghost“, „Chair“, „Boxes“ und “Victims“. „Sleeping Track“ dokumentiert tagebuchartig in immer neuen Varianten seine soeben verlassene Bettstelle und offenbart den konzeptuellen Ansatz. Sehr hell, in geradezu unstofflicher Leichtigkeit zeigen sich die zerwühlten Laken wie wasserumspülte Küstenformationen, schemenhaft, in unterschiedlichen Verdichtungen von Schwarz und Weiß erkennt man einen „Geist“: die thermographische Spur eines kurze Zeit vor der Aufnahme noch anwesenden Körpers. Später wird er in den „Chairs“ und „Boxes“ die Bildkomposition auf ihre Grundparameter reduzieren zugunsten einer völlig minimalistischen Wirkung.

Stephan Reusse protokolliert die Abwesenheit des Physischen und schließt in seine Arbeiten nicht den Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum wie eine Kapsel, einen Speicher mit ein. Bedingt durch die Trägheit der langen Wärmewellen, verbleibt die Restwärme eines lebenden Körpers für weitere fünf bis zehn Minuten an seinem verlassenen Ort, um sich dann allmählich zu verflüchtigen. So ist die für unser Auge eigentlich unsichtbare, „Temperaturskulptur“ in ihrer „Erscheinung“ einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen, abhängig vom Zeitpunkt ihrer Aufnahme.

Schon bei den Porträts verabscheut Reusse den heimlich aufgenommenen Schnappschuss, und auch hier interessiert ihn nicht der herausgerissene Augenblick: „Nicht über diesen Moment der Photographie, diesen Bruchteil einer Sekunde habe ich die Information, sondern ich habe ein Riesenspektrum an Zeit da, was ich einbauen kann“, und dadurch ist es möglich, „ganz kleine narrative Elemente mit einzubeziehen in die Bilder“. Man fragt sich unweigerlich, wer sich wohl hinter den anonymen Schemen verbirgt, die als „Ghost“ auftraten, eine Zeit lang auf den „Chairs“ saßen, in den Betten lagen; was alles geschehen ist, bevor und nachdem der Künstler seine Aufnahmen gemacht hat.

Sein forschendes, kritisches Herangehen vereinigt sich mit malerischen Ambitionen: „Mein photographischer Standpunkt kommt für mich nur aus der Richtung des Dokuments, ansonsten bin ich Maler. (…) Ich gehe sehr stark in die Malerei, ich mag diese unscharfen, fast abstrakten Bilder“. Überzeugend führt er uns vor, was uns, die wir glauben, alles kontrollieren und beherrschen zu können, alles entgeht, als Welt verschlossen bleibt: „Mich fasziniert die Wahrnehmung. (…) Unsere Sinne sind verkümmert, beschränkt auf eine gewisse Logik, auf das, was wir sehen und dessen Übersetzbarkeit in Worte. Wofür es keine Worte gibt, das wird von der Wissenschaft schon weggedrückt Richtung Esoterik – es existiert nicht.“ Diese Aussage signalisiert die Offenheit und Neugierde von Reusse gegenüber Phänomenen, die wissenschaftlich nicht fassbar sind. Sie sind ihm vertraut, die Grenzbereiche, Nebenwelten. Seine häufigen Reisen, darunter auch wiederholte Aufenthalte in den USA, sensibilisieren ihn für andere Kulturen, Realitäten, Wahrheiten. Bruce Chatwins „Songlines“ von 1987 wird zu einer entscheidenden Wegmarke; die Fähigkeit der Aborigines, einander Gesänge vorzuspielen über weit entfernte Landschaften und diese „Karten“ zu entziffern, nimmt er als Beweis dafür, dass sie existiert, diese besondere Form der Kommunikation. So wie es „in vielen Urkulturen eine Sprache“ gibt, die „über das Senden von Bildern funktioniert“. Da erscheint es fast selbstverständlich, dass er zusammen mit einem Aborigine-Schamanen das Projekt „Talking about dreams“ entwirft.

Aus einem Grenzbereich stammen auch die seit 1992, auf nächtlichen Streifzügen durch urbane Straßenlandschaften entstandenen „Schläfer/Victims“. In diesen Arbeiten kombiniert Stephan Reusse teilweise den Wärmeabdruck mit dem physischen Abbild. Opfer von Verkehrsunfällen, Straftaten, Penner, die irgendwo, kaum verortbar durch die Auflösung der Räumlichkeit, als diffuse, milchige und wie von innen heraus leuchtende Erscheinungen im grobkörnigen Areal des Bildrechtecks zu schweben scheinen. Zur Identifizierung sind im Titel nur Ort und Jahr des Ereignisses genannt. Ihre reportagehafte Härte, das Rohe der Abzüge sind für den Künstler eine Möglichkeit, sich dem Dargestellten inhaltlich anzunähern: „Ich mag diese unscharfen, fast abstrakten Bilder, die etwas von der Schärfe der Realität wegnehmen. Später kommen dann ganz langsam die Informationen, der Sachgehalt … man nähert sich ganz anders an dieses Geschehen an, und dadurch wird das für mich fast noch ein bisschen härter, realer.“ Der Moment des Unfalls oder Überfalls als Zeitriss, Zäsur, Dehnung des Augenblicks in Zeitlupe; das Einschweißen eines Zeitraums durch den Thermoschatten – beides ist da. Einzelschicksale stehen nicht im Mittelpunkt dieser Serie, aber die Objektivität der professionellen Tatortphotographie scheint in ihr ebenso auf wie Reusses Vorbild Weegee. Auch Gefühle der Trauer kommen beim Betrachten hoch. Jeder kann sich seine eigene Geschichte dazu machen.

Seine Vorliebe für Außenseiter beweist Stephan Reusse einmal mehr in dem Werkzyklus „Wolves“, begonnen im Jahr 2001. Nächtelang hat er in den Wäldern Nordamerikas gefilmt, um die in vielen Kulturen als Symbol des Bösen schlechthin geltenden Tiere in Artefakt-Dokumenten festzuhalten. Seit der Antike verkörpert der Wolf den Feind des Menschen, seiner Häuslichkeit und Herden, und die Mythen und Fabeln beschreiben „Isegrimm“ als ein Tier, das jenseits aller sozialen Normen und Bindungen lebt, maßlos, schlau, falsch und vor allem unbezähmbar ist. Heute ist er selten geworden, und umso stärker hat sich die Ausgrenzung in das Bedürfnis verwandelt, seine Art zu schützen. Für den Künstler funktioniert der Wolf wie die aufregendere Version des Hundes, der einen Raum als „Geruchsbild“ liest und uns dadurch in ähnlicher Weise überlegen ist wie die Thermographie, die ihn als Temperaturbild darstellt. Das Video „Wolves“ (2003, 20 min, Auflage 25), Kernstück des Werkkomplexes, nimmt den Betrachter mit seiner wandfüllenden Projektion und der ungewöhnlichen rot- und blauvioletten Grundfärbung gefangen. Im Atemrhythmus pulsierend, zeigt der Kameraausschnitt grobkörnig und vage einen Blick mitten in den nächtlichen Wald. Minutenlang geschieht nichts. Plötzlich tauchen sie auf, völlig anders als erwartet, die Wölfe, gelblich-orange Schemen, träge und zeitverzögert bewegen sich ihre thermischen Spuren. Sie ziehen von den Ecken und Rändern zur Mitte, formieren sich manchmal zum Rudel, rennen schnell davon oder trotten langsam dahin. Als ein Tier von links in das Bild tritt, stehen bleibt, zögert und den Kopf frontal dreht, Witterung aufnimmt, spürt man sofort, dass genau in diesem Augenblick der Kontakt zwischen dem Wolf und dem Künstler und jedem potentiellen Betrachter geschieht. Man ist gebannt und berührt. Eine ähnliche Szene existiert auch als Still in Schwarzweiß. Stephan Reusse erinnert sich noch genau. „Dieses ruhige Bild mit den weißen glühenden Augen …. das fasziniert mich immer noch … diese Erfahrung, die ich hatte, als er mich eine Minute nur anguckte. Da passiert auch sehr viel.“ Film und Bild gelingt es, den Wolf in seiner Eigenart zu erfassen, ohne ihn zu vereinnahmen. Es ist, als gebe Reusse dem wilden Tier etwas von sich selbst zurück, als schaffe er im Kunstwerk seine Analogie. Auch bei den farbigen Stills in Orangebraun, das die Wesen wie verzerrte Farbschlieren, amorphe Andeutungen festhält, betont er ihre Existenz in einer eigenen Welt, die für uns unerreichbar bleibt: „Dieses Scheue, man kriegt die Bilder kaum mit, die schnupperten, waren immer sofort wieder weg, ganz schnell.“

Manchmal kommt es einem so vor, als verspürte man eine ferne Affinität des Künstlers zu den Wölfen, denen er auf subtile Art so nahe gekommen ist wie vielleicht kein anderer. Auch er zeigt sich oft unberechenbar, offenbart immer wieder überraschende Seiten, hat jahrelang eine nomadenhafte Existenz geführt, eigensinnig, mit geschärften Sinnen und sicherem Instinkt seinen Themen auf der Spur.

Seine Lehrtätigkeit an der Kölner Kunsthochschule für Medien von 2000–2006 hat seine Auseinandersetzung mit der apparativen Realität intensiviert. Stephan Reusse agiert unorthodox und souverän im Sinne einer experimentierfreudigen Recherche mit den technischen Möglichkeiten von Photographie und Video in ihren analogen und digitalen Versionen, doch er kann nicht verleugnen, dass die völlige Auflösung des Werkes, seine unendliche Reproduzierbarkeit und Manipulation nicht sein Thema sind. Zu eindeutig ist seine Affinität zu Aura, Original, rituellen Aktionen und die Liebe zu den handwerklichen Prozessen der alten Medien.

Der Schlüssel zu seinen Werken liegt in einem unausgesprochenen, sich immer wieder verflüchtigenden „Dazwischen“ – so wie die Entfernung zwischen zwei kommunizierenden Polen, seien es Künstler und Porträtierter oder Betrachter und Werk; wie die Verschiebung von physischem Körper und Wärmeschatten oder die Differenz von ausgedehnter und zusammengeschrumpfter Zeit, der Weg von gesendetem zu empfangenem Traum.

„Bei mir funktioniert vieles aus einen Moment der Stille heraus, ich mache ja keine lauten Bilder.“

Gabriele Wurzel, Köln 2008

 

An den Anfang scrollen